Der Gelehrte Selim war bald herbeigeholt.
«Selim«, sprach zu ihm der Kalif,»man sagt, du bist sehr gelehrt. Guck einmal ein wenig in diese Schrift. Kannst du sie lesen? Wenn ja, so bekommst du ein neues Festkleid von mir. Kannst du es nicht, so bekommst du zw?lf Backenstreiche und f?nfundzwanzig auf die Fu?sohlen!«
Selim verneigte sich und sprach:
«O Herr!«
Lange betrachtete er die Schrift. Pl?tzlich aber rief er aus:
«Das ist lateinisch, o Herr!«
«Sag, was drin steht[12 - was drin steht – что там такое написано]«, befahl der Kalif,»wenn es lateinisch ist.«
Selim begann zu ?bersetzen:
«Mensch, der du dieses findest, preise Allah f?r seine Gnade! Wer von dem Pulver in dieser Dose schnupft und dazu spricht: Mutabor, der kann sich in jedes Tier verwandeln. Und kann er auch die Sprache der Tiere verstehen. Will er wieder in seine menschliche Gestalt zur?ckkehren, so neige er sich dreimal gen Osten. Dann spricht er jenes Wort. Aber h?te dich! Wenn du verwandelt bist, lach nicht! Sonst kommt das Zauberwort g?nzlich aus deinem Ged?chtnis, und du bleibst ein Tier.«
Der Kalif war sehr gl?cklich. Er entlie? den Gelehrten und schenkte ihm ein sch?nes Kleid. Zu seinem Gro?wesir aber sagte er:
«Das hei? ich gut einkaufen, Mansor! Wie freue ich mich, bis ich ein Tier bin. Morgen fr?h kommst du zu mir. Wir gehen dann miteinander aufs Feld. Wir schnupfen etwas weniges aus meiner Dose und belauschen dann, was die Tiere in der Luft und im Wasser, im Wald und Feld sagen.«
II
Am anderen Morgen hat der Kalif Chasid gefr?hst?ckt und sich angekleidet. Dann der Gro?wesir erschien. Der Kalif steckte die Dose mit dem Zauberpulver in den G?rtel. Dann machte er sich mit dem Gro?wesir ganz allein auf den Weg. Sie gingen zuerst durch die weiten G?rten des Kalifen, um ihr Kunstst?ck zu probieren. Dann der Wesir schlug endlich vor, weiter hinaus an einen Teich zu gehen. Er sah da viele Tiere, namentlich St?rche.
Der Kalif ging mit ihm dem Teich zu. Als sie dort angekommen waren, sahen sie ein Storchen. Zugleich sahen sie auch weit oben in der Luft einen anderen Storch.
«Gn?digster Herr«, sagte der Gro?wesir,»wollen wir St?rche sein? Warum nicht?«
«Gut!«antwortete der Kalif.»Aber vorher wollen wir noch einmal betrachten, wie man wieder Mensch wird. Richtig! Wir m?ssen dreimal Mutabor sagen – so bin ich wieder Kalif und du Wesir. Aber m?ssen wir nicht lachen!«
W?hrend der Kalif also sprach, sah er den anderen Storchen ?ber ihrem Haupte. Schnell zog er die Dose aus dem G?rtel und nahm eine gute Prise. Dann bot er sie dem Gro?wesir dar, der gleichfalls schnupfte, und beide riefen:
«Mutabor!«
Da schrumpften ihre Beine ein[13 - schrumpften ihre Beine ein – их ноги сжались (уменьшились)] und wurden d?nn und rot. Die sch?nen gelben Pantoffel des Kalifen und seines Begleiters wurden unf?rmliche Storchf??e. Die Arme wurden zu Fl?geln. Der Hals fuhr aus den Achseln und ward eine Elle lang. Der Bart war verschwunden, und den K?rper bedeckten weiche Federn.
«Ihr habt einen h?bschen Schnabel, Herr Gro?wesir«, sprach der Kalif.»Beim Bart des Propheten[14 - beim Bart des Propheten – клянусь бородой Пророка], so etwas habe ich in meinem Leben nicht gesehen.«
«Danke«, erwiderte der Gro?wesir,»aber Eure Hoheit sehen als Storch noch h?bscher aus denn als Kalif. Aber kommt! Wir werden unsere Kameraden dort belauschen und erfahren, ob wir wirklich Storchisch[15 - Storchisch – язык аистов] k?nnen.«
Indem war der andere Storch auf der Erde angekommen. Er putzte sich mit dem Schnabel seine F??e. Er legte seine Federn zurecht und ging auf den ersten Storchen zu. Die beiden neuen St?rche aber beeilten sich, in ihre N?he zu kommen. Sie vernahmen zu ihrem Erstaunen folgendes Gespr?ch:
«Guten Morgen, Frau Langbein[16 - Frau Langbein – госпожа Долгоножка], so fr?h schon auf der Wiese?«
«Sch?nen Dank, lieber Klapperschnabel[17 - Klapperschnabel – Трещотка]! Ich habe mir nur ein kleines Fr?hst?ck geholt. Wollen wir vielleicht ein Viertelchen Eidechse oder ein Froschschenkelein essen?«
«Danke, aber habe ich heute gar keinen Appetit. Ich soll heute vor den G?sten meines Vaters tanzen.«
Zugleich schritt die junge St?rchin durch das Feld. Der Kalif und Mansor sahen ihr verwundert nach. Als sie aber auf einem Fu? stand und mit den Fl?geln anmutig dazu wedelte, da konnten sich die beiden nicht mehr halten. Ein Gel?chter brach aus ihren Schn?beln hervor. Der Kalif fasste sich zuerst wieder[18 - fasste sich zuerst wieder – первым пришел в себя]:
«Das war einmal ein Spa?«, rief er,»der nicht mit Gold man kaufen kann! Es ist schade, dass die dummen Tiere durch unser Gel?chter erschrocken sind!«
Aber jetzt fiel es dem Gro?wesir ein, dass das Lachen w?hrend der Verwandlung verboten war. Er teilte seine Angst deswegen dem Kalifen mit.
«Das wird ein schlechter Spa?, wenn ich ein Storch bleiben will! Besinne dich doch auf das dumme Wort! Ich bring es nicht heraus.«
«Dreimal gen Osten m?ssen wir uns b?cken und dazu sprechen: mu – mu – mu.«
Sie stellten sich gegen Osten und b?ckten sich in einem fort. Aber das Zauberwort war ihnen entfallen. Der Kalif b?ckte, sein Wesir rief mu – mu, aber k?nnten sie das Wort nicht sagen.
Der arme Chasid und sein Wesir waren und blieben[19 - waren und blieben – как были, так и остались] St?rche.
III
Traurig wandelten die Verzauberten durch die Felder. Sie wussten gar nicht, was sie anfangen sollten. Aus ihrer Storchenhaut konnten sie nicht heraus, in die Stadt zur?ck konnten sie auch nicht. Wollen die Einwohner von Bagdad ein Storchen zum Kalifen haben?
So schlichen sie mehrere Tage umher und ern?hrten sich k?mmerlich von Feldfr?chten. Zu Eidechsen und Fr?schen hatten sie ?brigens keinen Appetit. Aber konnten sie fliegen. So flogen sie oft auf die D?cher von Bagdad.
In den ersten Tagen bemerkten sie gro?e Unruhe und Trauer in den Stra?en. Aber ungef?hr am vierten Tag sa?en sie auf dem Palast des Kalifen. Da sahen sie unten in der Stra?e einen pr?chtigen Aufzug. Ein Mann in einem goldgestickten Scharlachmantel sa? auf einem geschm?ckten Pferd. Halb Bagdad sprang ihm nach und alle schrien:
«Heil Mizra, dem Herrscher von Bagdad!«
Da sahen die beiden St?rche auf dem Dache des Palastes einander an, und der Kalif Chasid sprach:
«Ahnst du jetzt, warum ich verzaubert bin, Gro?wesir? Dieser Mizra ist der Sohn meines Todfeindes[20 - der Sohn meines Todfeindes – сын моего заклятого врага], des m?chtigen Zauberers Kaschnur. Aber noch gebe ich die Hoffnung nicht auf. Komm mit mir! Wir wollen zum Grabe des Propheten wandern. Vielleicht, an heiliger St?tte, der Zauber wird gel?st.«
Sie erhoben sich vom Dach des Palastes und flogen der Gegend von Medina zu.
Aber das war sehr schwer. Die beiden St?rche hatten noch wenig ?bung.
«O Herr«, ?chzte nach ein paar Stunden der Gro?wesir,»Ihr fliegt gar zu schnell! Auch ist es schon Abend. Wir m?ssen ein Unterkommen f?r die Nacht suchen.«
Unten im Tale erblickte Chasid eine Ruine, so flogen sie dahin. Der Ort war ein Schloss. Sch?ne S?ulen ragten aus den Tr?mmern hervor. Sch?ne Gem?cher zeugten von der ehemaligen Pracht des Hauses. Chasid und sein Begleiter gingen durch die G?nge umher, um sich ein trockenes Pl?tzchen zu suchen.
Pl?tzlich blieb der Storch Mansor stehen.
«Herr und Gebieter«, fl?sterte er leiser,»es ist t?richt f?r einen Gro?wesir, noch mehr aber f?r einen Storchen, sich vor Gespenstern zu f?rchten. Aber etwas hat ganz vernehmlich geseufzt und gest?hnt.«
Der Kalif blieb nun auch stehen und h?rte ganz deutlich ein leises Weinen. Er wollte gehen, woher die Klaget?ne kamen. Der Wesir aber packte ihn mit dem Schnabel am Fl?gel. Der Wesir bat ihn flehentlich, sich nicht in neue, unbekannte Gefahren zu st?rzen.
Aber eilte der Kalif in einen finsteren Gang. Bald war er an einer T?re angelangt. Er stie? mit dem Schnabel die T?re auf. In dem verfallenen Gemach sah er eine gro?e Nachteule am Boden. Dicke Tr?nen rollten ihr aus den gro?en, runden Augen. Mit heiserer Stimme stie? sie ihre Klagen. Als sie aber den Kalifen und seinen Wesir erblickte, erhob sie ein lautes Freudengeschrei. Zu dem gro?en Erstaunen der beiden rief sie in gutem menschlichem Arabisch:
«Willkommen, ihr St?rche! Ihr seid mir ein gutes Zeichen meiner Errettung! Durch St?rche werde mir ein gro?es Gl?ck kommen!«
Der Kalif b?ckte sich mit seinem langen Hals. Er brachte seine d?nnen F??e in eine zierliche Stellung und sprach:
«Nachteule! Deine Hoffnung ist vergeblich. Du wirst unsere Hilflosigkeit selbst erkennen, wenn du unsere Geschichte h?rst.«