Es war unser Kind, Geliebter, das Kind meiner wissenden Liebe und Deiner sorglosen, fast unbewussten Z?rtlichkeit, unser Kind, unser Sohn, unser einziges Kind. Aber Du fragst nun – vielleicht erschreckt, vielleicht blo? erstaunt, – Du fragst nun, mein Geliebter, warum ich dies Kind Dir alle diese langen Jahre verschwiegen und erst heute von ihm spreche! Doch wie h?tte ich es Dir sagen k?nnen? Nie h?ttest Du mir, der Fremden, der allzu Bereitwilligen dreier N?chte geglaubt. Und dann, ich kenne Dich; ich kenne Dich so gut, wie Du kaum selber Dich kennst… Du h?ttest mich – ja, ich wei? es, dass Du es getan h?ttest, wider Deinen eigenen wachen Willen, – Du h?ttest mich gehasst f?r dieses Verbund.
Ich klage Dich nicht an, mein Geliebter, nein, ich klage Dich nicht an. Verzeih mir, wenn mir manchmal ein Tropfen Bitternis in die Feder flie?t.
Ich wei? ja, dass Du gut bist und hilfreich im tiefsten Herzen, Du hilfst jedem, hilfst auch dem Fremdesten, der Dich bittet. Aber Deine G?te ist so sonderbar, aber sie ist – verzeih mir – sie ist tr?ge.[60 - tr?ge – ленивый] Du hilfst, wenn man Dich ruft, Dich bittet, hilfst aus Scham, aus Schw?che und nicht aus Freudigkeit. Einmal, ich war noch ein Kind, sah ich durch das Guckloch an der T?r, wie Du einem Bettler[61 - Bettler, m – нищий] etwas gabst. Du gabst ihm rasch und sogar viel, noch ehe er Dich bat, aber Du reichtest es ihm mit einer gewissen Angst und Hast hin, er m?chte nur bald wieder fortgehen, es war, als h?ttest Du Furcht, ihm ins Auge zu sehen. Diese Deine unruhige, scheue, vor der Dankbarkeit fl?chtende Art des Helfens habe ich nie vergessen. Und deshalb habe ich mich nie an Dich gewandt. Ich wei?, du h?ttest mir damals zur Seite gestanden auch ohne die Gewissheit, es sei Dein Kind, Du h?ttest mich getr?stet, mir Geld gegeben, reichlich Geld, aber immer nur mit der geheimen Ungeduld, das Unbequeme von Dir wegzuschieben.
Aber dieses Kind war alles f?r mich, war es doch von Dir, nochmals Du, aber nun nicht mehr Du, der Gl?ckliche, der Sorglose, den ich nicht zu halten vermochte, sondern Du f?r immer – so meinte ich – mir gegeben, verhaftet in meinem Leibe[62 - Leib, m – тело], verbunden in meinem Leben. Nun hatte ich Dich ja endlich gefangen, ich konnte Dich, Dein Leben wachsen sp?ren in meinen Adern[63 - Adern, f, -n – вена], Dich tr?nken, Dich liebkosen, Dich k?ssen, wenn mir die Seele danach brannte. Siehst du, Geliebter, darum war ich so selig[64 - selig – счастливый, блаженный], als ich wusste, dass ich ein Kind von Dir hatte, darum verschwieg ich Dir es: denn nun konntest du mir nicht mehr entfliehen. Geliebter, es waren nicht nur so selige Monate, wie ich sie voraus f?hlte in meinen Gedanken, es waren auch Monate voll Grauen und Qual, voll Ekel vor der Niedrigkeit[65 - Niedrigkeit, f – низость, подлость] der Menschen. Ich hatte es nicht leicht. In das Gesch?ft konnte ich w?hrend der letzten Monate nicht mehr gehen, damit es den Verwandten nicht auff?llig werde und sie nicht nach Hause berichteten. Von der Mutter wollte ich kein Geld erbitten – so fristete[66 - fristen – перебиваться] ich mir mit dem Verkauf von dem bisschen Schmuck, den ich hatte…
Eine Woche vorher wurden mir aus einem Schranke von einer W?scherin die letzten paar Kronen gestohlen, so musste ich in die Geb?rklinik[67 - Geb?rklinik, f – родильный приют]. Dort, wo nur die ganz Armen, die Ausgesto?enen und Vergessenen sich in ihrer Not hinschleppen, dort, mitten im Abhub[68 - Abhub, m – объедки] des Elends, dort ist das Kind, Dein Kind geboren worden. Was die Armut an Erniedrigung, an seelischer und k?rperlicher Schande zu ertragen hat, ich habe es dort gelitten an dem Beisammensein[69 - Beisammensein, n – наравне] mit Dirnen und mit Kranken, die aus der Gemeinsamkeit des Schicksals eine Gemeinheit machten, an der Zynik der jungen ?rzte, die mit einem ironischen L?cheln der Wehrlosen[70 - wehrlos – беззащитный, незащищённый] das Betttuch aufstreiften und sie mit falscher Wissenschaftlichkeit antasteten, an der Habsucht[71 - Habsucht, f – алчность] der W?rterinnen. Die Tafel mit deinem Namen, das allein bist dort noch du, denn was im Bette liegt, ist blo? ein zuckendes St?ck Fleisch, betastet von Neugierigen, ein Objekt der Schau und des Studierens – ah, sie wissen es nicht, die Frauen, die ihrem Mann, dem z?rtlich wartenden, in seinem Hause Kinder schenken, was es hei?t, allein ein Kind zu geb?ren! Und lese ich noch heute in einem Buche das Wort H?lle, so denke ich pl?tzlich wider meinen bewussten Willen an jenen vollgepfropften[72 - vollgepfropften – битком набитый] Saal.
Verzeih, verzeih mir, dass ich davon spreche. Aber nur dieses eine Mal rede ich davon, nie mehr, nie mehr wieder. Elf Jahre habe ich geschwiegen davon, und werde bald stumm sein in alle Ewigkeit: einmal musste ich ausschreien wie teuer ich es erkaufte, dies Kind, das meine Seligkeit war und das nun dort ohne Atem liegt. Ich hatte sie schon vergessen, diese Stunden, l?ngst vergessen im L?cheln, in der Stimme des Kindes, in meiner Seligkeit; aber jetzt, da es tot ist, wird die Qual wieder lebendig, und ich musste sie mir von der Seele schreien, dieses eine Mal. Aber nicht Dich klage ich an, nur Gott, nur Gott, der sie sinnlos machte, diese Qual.
Nicht Dich klage ich an, und nie habe ich mich im Zorn[73 - Zorn, m – гнев] erhoben gegen Dich. Selbst in der Stunde, habe ich Dich nicht angeklagt vor Gott. Immer habe ich Dich geliebt, immer die Stunde gesegnet[74 - segnen – благословлять], da Du mir begegnet bist. Und m?sste ich noch einmal durch die H?lle jener Stunden und w?sste vordem, was mich erwartet, ich t?te es noch einmal, mein Geliebter, noch einmal und tausendmal!
Unser Kind ist gestern gestorben – Du hast es nie gekannt. Ich hielt mich lange verborgen[75 - verbogen (verbiegen) – скрываться] vor Dir, sobald ich dies Kind hatte; meine Sehnsucht nach Dir war weniger schmerzhaft geworden, ja ich glaube, ich liebte Dich weniger leidenschaftlich, zumindest litt ich nicht so an meiner Liebe, seit es mir geschenkt war. Ich wollte mich nicht zerteilen zwischen Dir und ihm; so gab ich mich nicht an Dich, den Gl?cklichen, sondern an dies Kind, das mich brauchte, das ich n?hren[76 -
?hren – кормить] musste, das ich k?ssen konnte und umfangen. Ich schien gerettet vor meiner Unruhe nach Dir, gerettet durch dies Dein anderes Du.
Nur eines tat ich: zu Deinem Geburtstag sandte ich Dir immer ein B?ndel wei?e Rosen, genau dieselben, wie Du sie mir damals geschenkt nach unserer ersten Liebesnacht. Hast Du je in diesen zehn, in diesen elf Jahren Dich gefragt, wer sie sandte? Hast Du Dich vielleicht an die erinnert, der Du einst solche Rosen geschenkt? Ich wei? es nicht und werde Deine Antwort nicht wissen. Nur aus dem Dunkel sie Dir hinzureichen, einmal im Jahre die Erinnerung aufbl?hen zu lassen an jene Stunde – das war mir genug.
Du hast es nie gekannt, unser armes Kind – heute klage ich mich an, dass ich es Dir verbarg, denn du h?ttest es geliebt. Nie hast Du ihn gekannt, den armen Knaben, nie ihn l?cheln gesehen, wenn er leise die Lider aufhob und dann mit seinen dunklen klugen Augen – Deinen Augen! – ein helles, frohes Licht warf ?ber mich, ?ber die ganze Welt. Er wurde immer mehr Du; schon begann sich auch in ihm jene Zweif?ltigkeit von Ernst und Spiel, die Dir eigen ist, sichtbar zu entfalten, und je ?hnlicher er Dir ward, desto mehr liebte ich ihn. Er hat gut gelernt, er plauderte Franz?sisch wie eine kleine Elster[77 - Elster, f, -n – сорока], seine Hefte waren die saubersten der Klasse, und wie h?bsch war er dabei, wie elegant in seinem schwarzen Samtkleid oder dem wei?en Matrosen J?ckchen. Immer war er der Eleganteste von allen, wohin er auch kam; in Grado am Strande, wenn ich mit ihm ging, blieben die Frauen stehen und streichelten sein langes blondes Haar. Er war so h?bsch, so zart, so zutunlich: als er im letzten Jahre ins Internat des Theresianums kam, trug er seine Uniform und den kleinen Degen wie ein Page aus dem achtzehnten Jahrhundert – nun hat er nichts als sein Hemdchen an, der Arme, der dort liegt mit blassen Lippen und eingefalteten H?nden.
Aber Du fragst mich vielleicht, wie ich das Kind so im Luxus erziehen konnte, wie ich es vermochte, ihm dies helle Leben der oberen Welt zu verg?nnen. Liebster, ich spreche aus dem Dunkel zu Dir; ich habe keine Scham, ich will es Dir sagen, aber erschrick nicht, Geliebter – ich habe mich verkauft. Ich hatte reiche Freunde, reiche Geliebte: zuerst suchte ich sie, dann suchten sie mich, denn ich war – hast Du es je bemerkt? – sehr sch?n. Verachtest[78 - verachten – презирать] Du mich nun, weil ich Dir es verriet, dass ich mich verkauft habe? Nein, ich wei?, Du verachtest mich nicht, ich wei?, Du verstehst alles und wirst auch verstehen, dass ich es nur f?r Dich getan, f?r Dein anderes Ich, f?r Dein Kind. Ich hatte einmal in jener Stube der Geb?rklinik an das Entsetzliche der Armut ger?hrt, ich wusste, dass in dieser Welt der Arme immer der Getretene, das Opfer ist, und ich wollte nicht, um keinen Preis, dass Dein Kind, Dein helles, sch?nes Kind da tief unten aufwachsen sollte im Dumpfen, im Gemeinen der Gasse, in der verpesteten Luft eines Hinterhausraumes. Sein zarter Mund sollte nicht die Sprache des Rinnsteins[79 - Rinnstein, m – сточная канава] kennen – Dein Kind sollte alles haben, allen Reichtum, alle Leichtigkeit der Erde, es sollte wieder aufsteigen zu Dir, in Deine Sph?re des Lebens. Darum, nur darum, mein Geliebter, habe ich mich verkauft. Es war kein Opfer f?r mich, denn was man gemeinhin Ehre und Schande nennt, das war mir wesenlos: Du liebtest mich nicht, Du, der Einzige, dem mein Leib geh?rte, so f?hlte ich es als gleichg?ltig, was sonst mit meinem K?rper geschah. Alle M?nner die ich kannte, waren gut zu mir, alle haben mich verw?hnt, alle achteten sie mich. Da war vor allem einer, ein ?lterer, verwitweter Reichsgraf, derselbe, der sich die F??e wundstand[80 - wund – стёртый до крови] an den T?ren, um die Aufnahme des vaterlosen Kindes, Deines Kindes, im Theresianum durchzudr?cken – der liebte mich wie eine Tochter. Dreimal, viermal machte er mir den Antrag, mich zu heiraten – ich k?nnte heute Gr?fin sein, Herrin auf einem zauberischen Schloss in Tirol, k?nnte sorglos sein, denn das Kind h?tte einen z?rtlichen Vater gehabt, der es verg?tterte, und ich einen stillen, vornehmen, g?tigen Mann an meiner Seite – ich habe es nicht getan, so sehr, so oft er auch dr?ngte, so sehr ich ihm wehe tat mit meiner Weigerung[81 - Weigerung, f – отказ, уклонение].
Vielleicht war es eine Torheit[82 - Torheit, f – сумасбродство], denn sonst lebte ich jetzt irgendwo still und geborgen, und dies Kind, das geliebte, mit mir, aber – warum soll ich Dir es nicht gestehen – ich wollte mich nicht binden, ich wollte Dir frei sein in jeder Stunde. Innen im Tiefsten, im Unbewussten meines Wesens lebte noch immer der alte Kindertraum, Du w?rdest vielleicht noch einmal mich zu Dir rufen, sei es nur f?r eine Stunde lang. Und f?r diese eine m?gliche Stunde habe ich alles weggesto?en, nur um Dir frei zu sein f?r Deinen ersten Ruf. Was war mein ganzes Leben seit dem Erwachen aus der Kindheit denn anders als ein Warten, ein Warten auf Deinen Willen!
Und diese Stunde, sie ist wirklich gekommen. Aber Du wei?t sie nicht, Du ahnst sie nicht, mein Geliebter! Auch in ihr hast Du mich nicht erkannt – nie, nie, nie hast du mich erkannt! Ich war Dir ja schon fr?her oft begegnet, in den Theatern, in den Konzerten, im Prater, auf der Stra?e – jedes Mal zuckte mir das Herz, aber Du sahst an mir vorbei: ich war ja ?u?erlich eine ganz andere, aus dem scheuen Kinde war eine Frau geworden, sch?n, wie sie sagten, in kostbare Kleider geh?llt, umringt von Verehrern: wie konntest Du in mir jenes sch?chterne M?dchen im d?mmerigen[83 -
?mmerig – сумеречный] Licht Deines Schlafraumes vermuten! Manchmal gr??te Dich einer der Herren, mit denen ich ging. Du danktest und sahst auf zu mir: aber Dein Blick war h?fliche Fremdheit, aber nie erkennend, entsetzlich fremd. Einmal, ich erinnere mich noch, ward mir dieses Nichterkennen, an das ich fast schon gewohnt war, zu brennender Qual: ich sa? in einer Loge der Oper mit einem Freunde und Du in der Nachbarloge. Die Lichter erloschen bei der Ouvert?re, ich konnte Dein Antlitz nicht mehr sehen, nur Deinen Atem f?hlte ich so nah neben mir, wie damals in jener Nacht, und auf der samtenen[84 - Samt, m – бархат] Br?stung der Abteilung unserer Logen lag Deine Hand aufgest?tzt. Und unendlich ?berkam mich das Verlangen[85 - Verlangen, n – желание], mich niederzubeugen und diese fremde, diese so geliebte Hand zu k?ssen, deren z?rtliche Umfassung ich einst gef?hlt. Um mich wogte aufw?hlend die Musik, immer leidenschaftlicher wurde das Verlangen, ich musste mich ankrampfen, mich gewaltsam aufrei?en, so gewaltsam zog es meine Lippen hin zu Deiner geliebten Hand. Nach dem ersten Akt bat ich meinen Freund, mit mir fortzugehen. Ich ertrug es nicht mehr, Dich so fremd und so nah neben mir zu haben im Dunkel. Aber die Stunde kam, sie kam noch einmal, ein letztes Mal in mein versch?ttetes Leben. Fast genau vor einem Jahr ist es gewesen, am Tage nach Deinem Geburtstage. Seltsam: ich hatte alle die Stunden an Dich gedacht, denn Deinen Geburtstag, ihn feierte ich immer wie ein Fest. Ganz fr?hmorgens schon war ich ausgegangen und hatte die wei?en Rosen gekauft, die ich Dir wie allj?hrlich senden lie? zur Erinnerung an eine Stunde, die Du vergessen hattest. Nachmittags fuhr ich mit dem Buben aus, f?hrte ihn zu Demel in die Konditorei und abends ins Theater, ich wollte, auch er sollte diesen Tag, ohne seine Bedeutung zu wissen, irgendwie als einen mystischen Feiertag von Jugend her empfinden. Am n?chsten Tage war ich dann mit meinem damaligen Freunde, einem jungen, reichen Br?nner Fabrikanten, mit dem ich schon seit zwei Jahren zusammenlebte, der mich verg?tterte, verw?hnte und mich ebenso heiraten wollte wie die andern und dem ich mich ebenso scheinbar grundlos verweigerte wie den andern, obwohl er mich und das Kind mit Geschenken ?bersch?ttete und selbst liebenswert war in seiner ein wenig dumpfen G?te. Wir gingen zusammen in ein Konzert, trafen dort heitere Gesellschaft, soupierten in einem Ringstra?enrestaurant, und dort, mitten im Lachen und Schw?tzen[86 - Schwatz, m – болтовня], machte ich den Vorschlag, noch in ein Tanzlokal, in den Tabarin, zu gehen. Mir waren diese Art Lokale mit ihrer systematischen und alkoholischen Heiterkeit wie jede „Drahrerei“ sonst immer widerlich, und ich wehrte mich sonst immer gegen derlei Vorschl?ge, diesmal aber – es war wie eine unergr?ndliche magische Macht in mir, die mich pl?tzlich unbewusst den Vorschlag mitten in die freudig zustimmende Erregung der andern werfen lie? – hatte ich pl?tzlich ein unerkl?rliches Verlangen, als ob dort irgendetwas Besonderes mich erwarte. Gewohnt, mir gef?llig[87 - gef?llig, adj – услужливый] zu sein, standen alle rasch auf, wir gingen hin?ber, tranken Champagner, und in mich kam mit einem Mal eine fast schmerzhafte Lustigkeit, wie ich sie nie gekannt. Ich trank und trank, sang die kitschigen Lieder mit und hatte fast den Zwang, zu tanzen oder zujubeln. Aber pl?tzlich – mir war, als h?tte etwas Kaltes oder etwas Gl?hendhei?es sich mir j?h aufs Herz gelegt – riss es mich auf: am Nachbartisch sa?est Du mit einigen Freunden und sahst mich an mit einem bewundernden und begehrenden[88 - begehrend, (nach D) – желать] Blick. Zum ersten Mal seit zehn Jahren sahst Du mich wieder an mit der ganzen unbewusst-leidenschaftlichen Macht Deines Wesens.
Ich zitterte. Fast w?re mir das erhobene Glas aus den H?nden gefallen. Gl?cklicherweise merkten die Tischgenossen nicht meine Verwirrung: sie verlor sich in dem Dr?hnen von Gel?chter und Musik. Immer brennender wurde Dein Blick und tauchte mich ganz in Feuer. Ich wusste nicht: hattest Du mich endlich, endlich erkannt, oder begehrtest Du mich neu, als eine andere, als eine Fremde? Das Blut flog mir in die Wangen[89 - das Blut flog in die Wangen – кровь прихлынула к щекам], zerstreut antwortete ich den Tischgenossen: Du musstest es merken, wie verwirrt ich war von Deinem Blick. Unmerklich f?r die ?brigen machtest Du mit einer Bewegung des Kopfes ein Zeichen, ich m?chte f?r einen Augenblick hinauskommen in den Vorraum. Dann zahltest Du ostentativ, nahmst Abschied von Deinen Kameraden und gingst hinaus, nicht ohne zuvor noch einmal angedeutet zu haben, dass Du drau?en auf mich warten w?rdest. Ich zitterte wie im Frost, wie im Fieber, ich konnte nicht mehr Antwort geben, nicht mehr mein aufgejagtes Blut beherrschen. Zuf?lligerweise begann gerade in diesem Augenblick ein Negerpaar mit knatternden Abs?tzen und schrillen Schreien einen absonderlichen[90 - absonderlich – замысловатый, своеобразный] neuen Tanz: alles starrte ihnen zu, und diese Sekunde n?tzte ich. Ich stand auf, sagte meinem Freunde, dass ich gleich zur?ckk?me, und ging Dir nach.
Drau?en im Vorraum vor der Garderobe standest Du, mich erwartend: Dein Blick ward hell, als ich kam. L?chelnd eiltest Du mir entgegen; ich sah sofort, Du erkanntest mich nicht, erkanntest nicht das Kind von einst und nicht das M?dchen, noch einmal grifffest Du nach mir als einem Neuen, einem Unbekannten. „Haben Sie auch f?r mich einmal eine Stunde?“ fragtest Du vertraulich – ich f?hlte an der Sicherheit Deiner Art, Du nahmst mich f?r eine dieser Frauen, f?r die K?ufliche eines Abends. „Ja“, sagte ich, dasselbe zitternde und doch selbstverst?ndliche einwilligende Ja, das Dir das M?dchen vor mehr als einem Jahrzehnt auf der d?mmernden Stra?e gesagt. „Und wann k?nnten wir uns sehen?“ fragtest Du. „Wann immer Sie wollen“, antwortete ich – vor Dir hatte ich keine Scham. Du sahst mich ein wenig verwundert an, mitderselben misstrauisch-neugierigen Verwunderung wie damals, als Dich gleichfalls die Raschheit meines Einverst?ndnisses erstaunt hatte. „K?nnten Sie jetzt?“ fragtest Du, ein wenig z?gernd[91 -
?gernd – нерешительный]. „Ja“, sagte ich, „gehen wir.“
Ich wollte zur Garderobe, meinen Mantel holen. Da fiel mir ein, dass mein Freund den Garderobenzettel hatte f?r unsere gemeinsam abgegebenen M?ntel. Zur?ckzugehen und ihn verlangen, w?re ohne umst?ndliche Begr?ndung nicht m?glich gewesen, anderseits die Stunde mit Dir preisgeben, die seit Jahren ersehnte, dies wollte ich nicht. So habe ich keine Sekunde gez?gert: ich nahm nur den Schal ?ber das Abendkleid und ging hinaus in die nebelfeuchte Nacht, ohne mich um den guten, z?rtlichen Menschen zu k?mmern, von dem ich seit Jahren lebte zu einem, dem seine Geliebte nach Jahren wegl?uft auf den ersten Pfiff eines fremden Mannes.
Oh, ich war mir ganz der Niedrigkeit, der Undankbarkeit, der Sch?ndlichkeit, die ich gegen einen ehrlichen Freund beging, im Tiefsten bewusst. Ich f?hlte, dass ich l?cherlich handelte und mit meinem Wahn einen g?tigen Menschen f?r immer t?dlich kr?nkte. Ich f?hlte, dass ich mein Leben mitten entzweiriss[92 - entzweirei?en – разрывать (пополам)] – aber was war mir Freundschaft, was meine Existenz gegen die Ungeduld, wieder einmal Deine Lippen zu f?hlen, Dein Wort weich gegen mich gesprochen zu h?ren. So habe ich Dich geliebt, nun kann ich es Dir sagen, da alles vorbei ist und vergangen. Und ich glaube, riefest Du mich von meinem Sterbebette, so k?me mir pl?tzlich die Kraft, aufzustehen und mit Dir zu gehen.
Ein Wagen stand vor dem Eingang, wir fuhren zu Dir. Ich h?rte wieder Deine Stimme, ich f?hlte Deine z?rtliche N?he und war genau so bet?ubt, so kindisch-selig verwirrt wie damals. Wie stieg ich, nach mehr als zehn Jahren, zum ersten Mal wieder die Treppe empor – nein, nein, ich kann Dir es nicht schildern, wie ich alles immer doppelt f?hlte in jenen Sekunden, vergangene Zeit und Gegenwart, und in allem und allem immer nur Dich.
In Deinem Zimmer war weniges anders, ein paar Bilder mehr, und mehr B?cher, da und dort fremde M?bel, aber alles doch gr??te mich vertraut. Und am Schreibtisch stand die Vase mit den Rosen darin – mit meinen Rosen, die ich Dir tags vorher zu Deinem Geburtstag geschickt als Erinnerung an eine, an die Du Dich doch nicht erinnertest, die Du doch nicht erkanntest, selbst jetzt, da sie Dir nahe war, Hand in Hand und Lippe an Lippe. Aber doch: es tat mir wohl, dass Du die Blumen hegtest[93 - hegen – хранить]: so war doch ein Hauch[94 - Hauch, m – дыхание] meines Wesens, ein Atem meiner Liebe um Dich.
Du nahmst mich in Deine Arme. Wieder blieb ich bei Dir eine ganze herrliche Nacht. Aber auch im nackten Leibe erkanntest Du mich nicht. Selig erlitt ich Deine wissenden Z?rtlichkeiten und sah, dass Deine Leidenschaft keinen Unterschied macht zwischen einer Geliebten und einer K?uflichen. Du warst so z?rtlich und lind[95 - lind – чуткий, мягкий] zu mir, der vom Nachtlokal Geholten, so vornehm und so herzlich-achtungsvoll und doch gleichzeitig so leidenschaftlich im Genie?en der Frau. Wieder f?hlte ich diese einzige Zweiheit Deines Wesens, die wissende, die geistige Leidenschaft in der sinnlichen, die schon das Kind Dir h?rig gemacht. Nie habe ich bei einem Manne in der Z?rtlichkeit solche Hingabe an den Augenblick gekannt – freilich um dann hinzul?schen in eine fast unmenschliche Vergesslichkeit.
Aber auch ich verga? mich selbst. Wer war ich nun im Dunkel neben Dir? War ich, das brennende Kind von einst, war ich, die Mutter Deines Kindes, war ich, die Fremde? Ach, es war so vertraut, so erlebt alles, und alles wieder so rauschend neu in dieser leidenschaftlichen Nacht. Und ich betete, sie m?chte kein Ende nehmen[96 - kein Ende nehmen – не было конца].
Aber der Morgen kam, wir standen sp?t auf, Du ladest mich ein, noch mit Dir zu fr?hst?cken. Wir tranken zusammen den Tee und plauderten. Wieder sprachst Du mit der ganzen offenen, herzlichen Vertraulichkeit Deines Wesens zu mir und wieder ohne alle indiskreten Fragen, ohne alle Neugier nach dem Wesen, das ich war. Du fragtest nicht nach meinem Namen, nicht nach meiner Wohnung: ich war Dir wiederum nur das Abenteuer, das Namenlose, die hei?e Stunde, die im Rauch des Vergessens spurlos sich l?st.
Du erz?hltest, dass Du jetzt weit weg reisen wolltest, nach Nordafrika f?r zwei oder drei Monate: ich zitterte mitten in meinem Gl?ck, denn schon h?mmerte es mir in den Ohren: vorbei, vorbei und vergessen! Am liebsten w?re ich hin zu Deinen Knien gest?rzt und h?tte geschrien: „Nimm mich mit, damit Du mich endlich erkennst, endlich, endlich nach so vielen Jahren!“ Aber ich war ja so scheu, so schwach vor Dir. Ich konnte nur sagen: „Wie schade.“ Du sahst mich l?chelnd an: „Ist es Dir wirklich leid?“ Da fasste es mich wie eine pl?tzliche Wildheit[97 - Wildheit, f – буйство]. Ich stand auf, sah Dich an, lange und fest. Dann sagte ich: „Der Mann, den ich liebte, ist auch immer weggereist.“ Ich sah Dich an, mitten in den Stern Deines Auges. „Jetzt, jetzt wird er mich erkennen!“ zitterte alles in mir. Aber Du l?cheltest mir entgegen und sagtest tr?stend: „Man kommt ja wieder zur?ck.“
„Ja“, antwortete ich, „man kommt zur?ck, aber dann hat man vergessen.“
Es muss etwas Absonderliches[98 - absonderlich – странный], etwas Leidenschaftliches in der Art gewesen sein, wie ich Dir das sagte. Denn auch Du st?ndest auf und sahst mich an, verwundert und sehr liebevoll. Du nahmst mich bei den Schultern. „Was gut ist, vergisst sich nicht, Dich werde ich nicht vergessen“, sagtest Du, und dabei senkte sich Dein Blick ganz in mich hinein, als wollte er dies Bild sich festpr?gen. Und wie ich diesen Blick in mich eindringen f?hlte, da glaubte ich endlich, endlich den Bann der Blindheit gebrochen. Er wird mich erkennen, er wird mich erkennen! Meine ganze Seele zitterte in dem Gedanken.
Aber Du erkanntest mich nicht. Nein, Du erkanntest mich nicht, nie war ich Dir fremder jemals als in dieser Sekunde, denn sonst – sonst h?ttest Du nie tun k?nnen, was Du wenige Minuten sp?ter t?test. Du hast mich gek?sst, noch einmal leidenschaftlich gek?sst. Ich musste mein Haar, das sich verwirrt hatte, wieder zurechtrichten, und w?hrend ich vor dem Spiegel stand, da sah ich durch den Spiegel – und ich glaubte hinsinken zu m?ssen vor Scham und Entsetzen – da sah ich, wie Du in diskreter Art ein paargr??ere Banknoten in meinen Muff schobst. Wie habe ich vermocht, nicht aufzuschreien, Dir nicht ins Gesicht zu schlagen in dieser Sekunde – mich, die ich Dich liebte von Kindheit an, die Mutter Deines Kindes, mich zahltest Du f?r diese Nacht! Eine Dirne aus dem Tabarin war ich Dir, nicht mehr – bezahlt, bezahlt hast Du mich! Es war nicht genug, von Dir vergessen zu werden, ich musste noch erniedrigt sein.
Ich tastete rasch nach meinen Sachen. Ich wollte fort, rasch fort. Es tat mir zu weh. Ich griff nach meinem Hut, er lag auf dem Schreibtisch neben der Vase mit den wei?en Rosen, meinen Rosen. Da erfasste es mich m?chtig, unwiderstehlich: noch einmal wollte ich es versuchen, Dich zu erinnern. „M?chtest Du mir nicht von Deinen wei?en Rosen eine geben?“ „Gern“, sagtest Du und nahmst sie sofort. „Aber sie sind Dir vielleicht von einer Frau gegeben, von einer Frau, die Dich liebt?“ sagte ich. „Vielleicht“, sagtest Du, „ich wei? es nicht. Sie sind mir gegeben, und ich wei? nicht von wem; darum liebe ich sie so.“ Ich sah Dich an. „Vielleicht sind sie auch von einer, die Du vergessen hast!“ Du blicktest erstaunt. Ich sah Dich fest an. „Erkenne mich, erkenne mich endlich!“ schrie mein Blick. Aber Dein Auge l?chelte freundlich und unwissend. Du k?sstest mich noch einmal. Aber Du erkanntest mich nicht.
Ich ging rasch zur T?r, denn ich sp?rte, dass mir Tr?nen in die Augen schossen, und das solltest Du nicht sehen. Im Vorzimmer – so hastig war ich hinausgeeilt – stie? ich mit Johann, Deinem Diener, fast zusammen. Scheu und eilfertig[99 - eilfertig – поспешно] sprang er zur Seite, riss die Haust?r auf, um mich hinauszulassen, und da – in dieser einen, h?rst Du? in dieser einen Sekunde, da ich ihn ansah, mit tr?nenden Augen ansah, den gealterten Mann, da zuckte ihm pl?tzlich ein Licht in den Blick.
In dieser einen Sekunde, h?rst Du? in dieser einen Sekunde, hat der alte Mann mich erkannt, der mich seit meiner Kindheit nicht gesehen. Ich h?tte hinknien k?nnen vor ihm f?r dieses Erkennen und ihm die H?nde k?ssen. So riss ich nur die Banknoten, mit denen Du mich gegei?elt, rasch aus dem Muff und steckte sie ihm zu. Er zitterte, sah erschreckt zu mir auf – in dieser Sekunde hat er vielleicht mehr geahnt von mir als Du in Deinem ganzen Leben. Alle, alle Menschen haben mich verw?hnt, alle waren zu mir g?tig – nur Du, nur Du, Du hast mich vergessen, nur Du, nur Du hast mich nie erkannt!
Mein Kind ist gestorben, unser Kind – jetzt habe ich niemanden mehr in der Welt, ihn zu lieben, als Dich. Aber wer bist Du mir, Du, der Du mich niemals, niemals erkennst, der an mir vor?bergeht wie an einem Wasser, der auf mich tritt wie auf einen Stein, der immer geht und weiter geht und mich l?sst in ewigem Warten? Einmal vermeinte ich Dich zu halten, Dich, den Fl?chtigen[100 - fl?chtig – неуловимый, мимолётный], in dem Kinde. Aber es war Dein Kind: ?ber Nacht ist es grausam von mir gegangen, eine Reise zu tun, es hat mich vergessen und kehrt nie zur?ck. Ich bin wieder allein, mehr allein als jemals, nichts habe ich, nichts von Dir – kein Kind mehr, kein Wort, keine Zeile, kein Erinnern, und wenn jemand meinen Namen nennen w?rde vor Dir, Du h?rtest an ihm fremd vorbei. Warum soll ich nicht gerne sterben, da ich Dir tot bin, warum nicht weitergehen, da Du von mir gegangen bist? Nein, Geliebter, ich klage nicht wider Dich, ich will Dir nicht meinen Jammer hinwerfen in Dein heiteres Haus. F?rchte nicht, dass ich Dich weiter bedr?nge – verzeih mir, ich musste mir einmal die Seele ausschreien in dieser Stunde, da das Kind dort tot und verlassen liegt. Nur dies eine Mal musste ich sprechen zu Dir – dann gehe ich wieder stumm in mein Dunkel zur?ck, wie ich immer stumm neben Dir gewesen. Aber du wirst diesen Schrei nicht h?ren, solange ich lebe – nur wenn ich tot bin, empf?ngst Du dies Verm?chtnis von mir, von einer, die Dich mehr geliebt als alle und die Du nie erkannt, von einer, die immer auf Dich gewartet und die Du nie gerufen. Vielleicht, vielleicht wirst Du mich dann rufen, und ich werde Dir ungetreu sein zum ersten Mal, ich werde Dich nicht mehr h?ren aus meinem Tod: kein Bild lasse ich Dir und kein Zeichen, wie Du mir nichts gelassen; nie wirst Du mich erkennen, niemals. Es war mein Schicksal im Leben, es sei es auch in meinem Tod. Ich will Dich nicht rufen in meiner letzten Stunde, ich gehe fort, ohne dass Du meinen Namen wei?t und mein Antlitz. Ich sterbe leicht, denn Du f?hlst es nicht von ferne. T?te es Dir weh, dass ich sterbe, so k?nnte ich nicht sterben.
Ich kann nicht mehr weiter schreiben … mir ist so dumpf im Kopfe … die Glieder tun mir weh, ich habe Fieber … ich glaube, ich werde mich gleich hinlegen m?ssen. Vielleicht ist es bald vorbei, vielleicht ist mir einmal das Schicksal g?tig, und ich muss es nicht mehr sehen, wenn sie das Kind wegtragen… Ich kann nicht mehr schreiben. Leb wohl, Geliebter, leb wohl, ich danke Dir … Es war gut, wie es war, trotz alledem …ich will Dirs danken bis zum letzten Atemzug. Mir ist wohl: ich habe Dir alles gesagt, Du wei?t nun, nein, Du ahnst nur, wie sehr ich Dich geliebt, und hast doch von dieser Liebe keine Last[101 - Last, f – груз, бремя]. Ich werde Dir nicht fehlen – das tr?stet mich. Nichts wird anders sein in Deinem sch?nen, hellen Leben … ich tue Dir nichts mit meinem Tod … das tr?stet mich, Du Geliebter.
Aber wer … wer wird Dir jetzt immer die wei?en Rosen senden zu Deinem Geburtstag? Geliebter, h?re, ich bitte Dich … es ist meine erste und letzte Bitte an Dich … tu mir es zuliebe[102 - etw. zuliebe tun – делать что-л. из любви], nimm an jedem Geburtstag – es ist ja Tag, wo man an sich denkt – nimm da Rosen und tu sie in die Vase. Tu’s, Geliebter, tu es so, wie andere einmal im Jahre eine Messe lesen lassen f?r eine liebe Verstorbene. Ich aber glaube nicht an Gott mehr und will keine Messe, ich glaube nur an Dich, ich liebe nur Dich und will nur in Dir noch weiterleben … ach, nur einen Tag im Jahr, ganz, ganz still nur, wie ich neben Dir gelebt … Ich bitte Dich, tu es, Geliebter … es ist meine erste Bitte an Dich und die letzte … ich danke Dir … ich liebe Dich, ich liebe Dich … lebe wohl…
Er legte den Brief aus den zitternden H?nden. Dann sann er lange nach. Verworren[103 - verworren – беспорядочный, запутанный] tauchte irgendein Erinnern auf an ein nachbarliches Kind, an ein M?dchen, an eine Frau im Nachtlokal, aber ein Erinnern, undeutlich und verworren. Schatten str?mten zu und fort, aber es wurde kein Bild. Er f?hlte Erinnerungen des Gef?hls und erinnerte sich doch nicht. Ihm war, als ob er von all diesen Gestalten getr?umt h?tte, oft und tief getr?umt, aber doch nur getr?umt.
Da fiel sein Blick auf die blaue Vase vor ihm auf dem Schreibtisch. Sie war leer, zum ersten Mal leer seit Jahren an seinem Geburtstag. Er schrak zusammen[104 - zusammen schrecken – вздрагивать]: ihm war, als sei pl?tzlich eine T?r unsichtbar aufgesprungen, und kalte Zugluft str?me aus anderer Welt in seinen ruhenden Raum. Er sp?rte einen Tod und sp?rte unsterbliche Liebe: innen brach etwas auf in seiner Seele, und er dachte an die Unsichtbare k?rperlos und leidenschaftlich wie an eine ferne Musik.
Der Amokl?ufer
Im M?rz des Jahres 1912 ereignete[105 - ereignen – случаться] sich im Hafen von Neapel bei dem Ausladen eines gro?en ?berseedampfers ein merkw?rdiger Unfall, ?ber den die Zeitungen umfangreiche, aber sehr phantastisch ausgeschm?ckte[106 - ausschm?cken – приукрашивать] Berichte brachten. Obzwar Passagier der „Oceania“, war es mir ebenso wenig wie den anderen m?glich, Zeuge[107 - Zeuge, m – свидетель] seltsamen Vorfalles zu sein. Es ereignete sich zur Nachtzeit w?hrend des Kohlenladens und der L?schung der Fracht[108 - Fracht, f – груз], wir aber, um den L?rm zu entgehen, alle an Land gegangen waren und dort in Kaffeeh?usern oder Theatern die Zeit verbrachten. Immerhin meine ich pers?nlich, dass manche Vermutungen, die wirkliche Aufkl?rung jener Szene in sich tragen, und die Ferne der Jahre erlaubt mir wohl, das Vertrauen eines Gespr?ches zu nutzen, das jener seltsamen Episode unmittelbar[109 - unmittelbar – непосредственно] vorausging.
Als ich in der Schiffsagentur von Kalkutta einen Platz f?r die R?ckreise nach Europa auf der „Oceania“ bestellen wollte, zuckte der Clerk bedauernd die Schultern. Am n?chsten Tage teilte er mir erfreulicherweise mit, er k?nne mir noch einen Platz vormerken, freilich sei es nur eine wenig komfortable Kabine unter Deck und in der Mitte des Schiffes. Ich war schon ungeduldig, heimzukehren. Ich z?gerte nicht lange und lie? mir den Platz zuschreiben.
Der Clerk hatte mich richtig informiert. Das Schiff war ?berf?llt und die Kabine schlecht, ein kleiner gepresster, rechteckiger Winkel in der N?he der Dampfmaschine. Die stockende, verdickte Luft roch nach ?l und Mod: nicht f?r einen Augenblick konnte man dem elektrischen Ventilator entgehen. Von unten her ratterte und st?hnte die Maschine, von oben h?rte man unaufh?rlich das schlurfende[110 - schlurfen – шаркать ногами] Hin und Her der Schritte vom Promenadendeck. So fl?chtete[111 - fl?chten – бежать] ich wieder zur?ck auf Deck, und wie Ambra einatmete ich den s??lichen weichen Wind, der vom Lande her ?ber die Wellen wehte.
Aber auch das Promenadendeck war voll Enge und Unruhe: es flirrte von Menschen, die mit der flackernden Nervosit?t plaudernd auf und nieder gingen. Das zwitschernde Gesch?ker[112 - Gesch?ker, n – любезничание] der Frauen, das rastlos kreisende Wandern tat mir irgendwie weh. Ich hatte eine neue Welt gesehen. Nun wollte ich mir ?bersinnen, zerteilen, ordnen, nachbildend das hei? in den Blick Gedr?ngte gestalten. Aber es war unm?glich, mit sich selbst auf dieser schattenlosen wandernden Schiffsgasse allein zu sein.
Drei Tage lang versuchte ich, sah resigniert[113 - resegniert – примирившийся] auf die Menschen, auf das Meer. Aber das Meer blieb immer dasselbe, blau und leer, nur im Sonnenuntergang pl?tzlich mit allen Farben war es ?bergossen. Und die Menschen kannte ich auswendig nach dreimal vierundzwanzig Stunden. Jedes Gesicht war mir vertraut bis zum ?berdruss, das scharfe Lachen der Frauen reizte, das Streiten zweier nachbarlicher holl?ndischer Offiziere ?rgerte nicht mehr. So blieb nur Flucht: aber die Kabine war hei? und dunstig, im Salon produzierten englische M?dchen ihr schlechtes Klavierspiel. Schlie?lich drehte ich entschlossen die Zeitordnung um, tauchte in die Kabine schon nachmittags hinab, nachdem ich mich zuvor mit ein paar Gl?sern Bier bet?ubt, um den Tanzabend zu ?berschlafen.
Als ich aufwachte, war es ganz dunkel und dumpf in dem kleinen Sarg der Kabine. Meine Sinne waren irgendwie bet?ubt: ich brauchte Minuten, um mich an Zeit und Ort zur?ck zu finden. Mitternacht musste jedenfalls schon vorbei sein, denn ich h?rte weder Musik noch den rastlosen Schlurf der Schritte.
Ich tastete empor[114 - empor – вверх] auf Deck. Es war leer. Der Himmel strahlte. Er war dunkel gegen die Sterne, aber doch: er strahlte; es war, als verh?llte[115 - verh?llen – застилать] dort ein samtener Vorhang ungeheures Licht. Nie hatte ich den Himmel gesehen wie in dieser Nacht, so strahlend, so stahlblau hart und doch funkelnd, quellend von Licht, das vom Mond verhangen niederschwoll. Gerade aber zu H?upten[116 - zu H?upten – над головой] stand mir das magische Sternbild, das S?dkreuz, mit flimmernden diamantenen N?geln ins Unsichtbare geh?mmert[117 -
?mmern – прибивать].
Ich stand und sah empor: mir war wie in einem Bade, wo Wasser warm von oben fallt. Ich atmete befreit, rein, und sp?rte auf den Lippen wie ein klares Getr?nk die Luft, die weiche, leicht trunken machende Luft, in der Atem von Fr?chten, Duft von fernen Inseln war. Nun, nun zum ersten Mal, seit ich die Planken betreten habe, ?berkam mich die heilige Lust des Tr?umens. So tastete ich weiter, allm?hlich dem Vorderteil des Schiffes zu, ganz geblendet vom Licht, das immer heftiger aus den Gegenst?nden auf mich zu dringen schien. Ich hatte Verlangen, mich irgendwo im Schatten zu vergraben, hingestreckt auf eine Matte, den Glanz nicht an mir zu f?hlen, sondern nur ?ber mir.
Endlich kam ich bis an den Kiel und sah hinab, wie der Bug[118 - Bug, m – носовая часть] in das Schwarze stie? und geschmolzenes Mondlicht sch?umend zu beiden Seiten der Schneide aufspr?hte. Und im Schauen verlor ich die Zeit. War es eine Stunde, dass ich so stand, oder waren es nur Minuten: im Auf und Nieder schaukelte mich die ungeheure Wiege[119 - Wiege, f – колыбель]
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