
Ein kleines Stückchen Seligkeit
Neil war gerührt über diesen freundlichen Empfang, aber ihm war auch klar, dass die Pflanze angesichts seines so gar nicht grünen Daumens kaum Überlebenschancen hatte. Sie würde trotz aller Bemühungen spätestens in ein paar Wochen das Zeitliche segnen.
Neil verließ die Küche wieder und ging zum Treppenaufgang. Links davon befand sich eine weitere Tür, die in einen Raum führte, der offensichtlich als Arbeitszimmer gedacht war. Es war eingerichtet mit einem Mahagonischreibtisch, Bücherregalen und einer Sitzgarnitur bestehend aus einem zweisitzigen Sofa und einem gemütlichen Sessel, in dem er sich in Gedanken schon Gespräche mit Gemeindemitgliedern führen sah.
Als Nächstes ging er die Treppe hinauf und fand im Obergeschoss das Schlafzimmer, das in einem geschmackvollen Beige gestrichen war, daneben das Bad, das zu Neils Erstaunen und leichter Beunruhigung beherrscht war von einer cremefarbenen Eckbadewanne mit Whirlpoolfunktion und allen möglichen Knöpfen und Schaltern für diverse Funktionen noch unbekannter Art.
Im Obergeschoss befanden sich noch zwei weitere Zimmer, von denen das größere als Gästezimmer mit einem Doppelbett eingerichtet war und das kleinere mit einem zusammenklappbaren Gästebett und einem Schreibtisch, sodass Neil den Raum entweder als zweites Gästezimmer oder als persönliches Arbeitszimmer nutzen konnte, weil es weniger öffentlich war als das untere. Neil konnte es kaum erwarten, sich hier einzurichten, und nachdem er all seine Sachen aus dem Auto ausgeladen hatte, werkelte er noch so lange im Haus herum, bis alles an Ort und Stelle war. Er freute sich sehr, als er feststellte, dass er am Ende des Gartens hinter dem Haus sogar eine eigene Garage hatte, in der er unter anderem sein Klappfahrrad, ein Ergometer, das er nur ein einziges Mal benutzt hatte (von dem er aber trotzdem das Gefühl gehabt hatte, es mitnehmen zu müssen), und einen Stapel leerer, bereits ausgepackter Plastikkisten abstellen konnte.
Er beschloss, die Bücher, die er »zum Vergnügen« las (unter anderem seine vollständige Reihe von Bernard-Cornwell-Romanen) im Wohnbereich unterzubringen, die theologischen Bücher und Nachschlagewerke dagegen im Arbeitszimmer, seine persönlichen Unterlagen und Ordner brachte er in das persönliche Arbeitszimmer im Obergeschoss. Seine Kleidung räumte er in den Kleiderschrank in seinem Schlafzimmer, seinen Talar und alles Zubehör brachte er in dem etwas höheren Kleiderschrank im Gästezimmer unter. Seine Schuhe stellte er paarweise in eine Reihe auf den Boden des begehbaren Kleiderschrankes und reservierte den letzten Platz für die Joggingschuhe, die er gerade anhatte. Den Inhalt seines Kulturbeutels räumte er in den Spiegelschrank im Bad um, bevor er als Letztes seine elektrische Zahnbürste einstöpselte.
Eine Stunde später ließ er sich zufrieden in einen Sessel sinken in dem Wissen, dass sein neues Heim jetzt ordentlich und organisiert war, genauso wie er es gern hatte.
Er wurde in seinen angenehmen Gedanken unterbrochen, als es zweimal hintereinander kurz und forsch läutete. Als er die Tür öffnete, stand ein großer, distinguierter Mann mit silbergrauem Haar vor ihm, der ihn freundlich anlächelte.
»Sie müssen Neil Fisher sein. Herzlich willkommen in St. Sephen's! Ich bin Peter Fellowes, der erste Vorsitzende des Kirchenvorstandes. Ich wollte mich nur vergewissern, ob Sie gut angekommen sind und mit allem versorgt sind, was Sie brauchen.«
Neil erwiderte den freundlichen Händedruck des Mannes herzlich und sagte: »Freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Peter. Wahrscheinlich muss ich mich bei Ihnen für das wundervolle Haus bedanken, nicht wahr? Es ist deutlich zu merken, dass hier sehr viel Arbeit investiert worden ist.«
»Ach, das war ja nicht ich allein, sondern dazu haben ganz viele beigetragen. Der Kirchenvorstand hat zu dem Zweck extra einen Unterausschuss gebildet. In solchen Dingen sind wir richtig gut.«
»Und ich«, sagte eine melodiöse Frauenstimme von irgendwo hinter dem blühenden Geißblattstrauch, der die Haustür umrankte, »ich habe ein Willkommenspaket für Sie vorbereitet!«
Peter wurde mit Nachdruck zur Seite geschoben, und hinter ihm tauchte eine Frau auf, die mit ihrer Präsenz alles beherrschte. Neil bemerkte ihre eleganten hochhackigen Schuhe, ihr fachmännisch frisiertes Haar und den maßgeschneiderten kirschroten Blazer, der kaum den Ausschnitt ihrer Bluse bedeckte, der selbst für Neils unerfahrenen Blick erstaunlich tief war für eine Dame »in einem gewissen Alter«.
»Glenda Fellowes«, sagte sie affektiert und sah Neil dabei tief in die Augen. »Ich hoffe, Sie haben alles, was Sie brauchen. Brot, Milch, Cornflakes, Zucker …« Das letzte Wort sagte sie mit einem dermaßen lasziven Unterton, dass es beinah wie eine Liebkosung klang. Und bevor Neil wusste, wie ihm geschah, war sie mit zwei schnellen Schritten im Haus und bedachte ihn mit einer stürmischen Umarmung, an die er sich noch Jahre später erinnern sollte. Das Gefühl, wie sie ihn fest an sich presste und er beinah an ihrem berauschenden Parfüm erstickte, weil sein Gesicht dabei in ihren üppigen Busen gepresst wurde, war wirklich unvergesslich.
»Willkommen, lieber Neil«, raunte sie ihm mit leicht rauchiger Stimme ins Ohr, »im Namen von uns allen hier von St. Stephen's. Und wenn Sie etwas brauchen …«
Sie löste sich wieder von ihm, hielt ihn auf Armeslänge von sich entfernt, sah ihm wieder tief in die Augen und fuhr fort: »… egal, was es ist … dann sagen Sie einfach Bescheid. Ihr Wunsch ist mir Befehl.«
Neil stand einfach nur da und fühlte sich wie unter Hypnose. Ein leichtes Hüsteln von der Seite unterbrach die Stimmung.
»So«, sagte Peter mit einem Hauch von Ungeduld in der Stimme. »Jetzt lass aber den armen Mann weitermachen. Wir sehen uns ja dann wahrscheinlich morgen früh bei der Morgenandacht, Neil. Unter der Woche ist die Kirche nur ein paar Mal für Andachten geöffnet. Es sind dann meistens nur wenige Leute da, aber ich bin immer gern dabei.«
Seinen Blick immer noch gleichermaßen fasziniert wie erschrocken auf Glenda gerichtet brachte Neil daraufhin nicht mehr zustande, als Peter kurz zuzunicken.
»So, jetzt komm aber, Glenda!«, sagte Peter und wandte sich ab, um zu gehen, während Glenda dem armen Neil noch einen langen, innigen Blick zuwarf und ihm dabei einmal kurz mit der Hand über die Wange strich. Dann trippelte sie sie so schnell und anmutig, wie es ihre Stöckelschuhe zuließen, hinter ihrem Mann her.
***
Neil brauchte mehrere Stunden und einen Becher Tee mit viel Zucker, um sich von der Begegnung mit Glenda zu erholen, aber als dann die Sonne über seinem neuen Zuhause unterging, hatte er sich so weit wieder beruhigt, dass er bereit war, seine gewohnte Abendandacht zu halten. Er überlegte, welcher Platz im Haus sich wohl am besten zu diesem Zweck eignete, und entschied sich schließlich für das Arbeitszimmer mit den bequemen Sesseln und seiner friedvollen Atmosphäre. Er überlegte, welches Bibelwort am besten zu diesem Anlass passte, und schlug dann eine seiner Lieblingsstellen, Johannes 14, auf:
In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen.
Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten.
Und er hatte wirklich das Gefühl, dass Jesus vor ihm hergegangen war, um ihn in die hübschen, ordentlichen Räume dieses blitzblank geputzten Hauses zu führen. Das hier war der Höhepunkt einer nicht nur physischen Reise, deren Ziel Dunbridge war. Nein, das hier war das Ziel einer geistlichen Odyssee, die in der schönen gemeinsamen Zeit mit seinem Vater begonnen hatte, in der sie zusammen Kirchen besucht hatten, die weitergegangen war in Form des mühsamen Prozesses, einen Beruf zu finden, der kein Job, sondern Berufung war, und die zu einem Abschluss gekommen war, als er endlich erkannt hatte, dass er von Gott berufen war und von ihm auch die Kraft bekommen würde, sich allem zu stellen, was auf ihn zukam.
Das Theologiestudium hatte ihm großen Spaß gemacht. Er hatte die Arbeit mit der Bibel geliebt und die hitzigen Diskussionen der Studenten über geistliche und ethische Fragen, die in ihren Bibelarbeiten aufgeworfen wurden. Er hatte immer mehr seine Unsicherheit verloren in der Gemeinschaft mit Menschen, mit denen er einen gemeinsamen Auftrag hatte und gemeinsam denselben Gott anbetete. Er hatte immer mehr glauben können, dass er den Glauben, die intellektuellen Fähigkeiten und auch die Intuition hatte, die er brauchte, um Menschen in den Hochs und Tiefs ihres eigenen Glaubensweges zu begleiten.
Aber Neil kannte auch seine Grenzen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass er jemals gut schlafen würde in der Nacht, bevor er eine Predigt halten musste. Und bei dem Gedanken, ganz allein einen kompletten Gottesdienst zu leiten, wurde ihm immer noch ganz mulmig – doch er kam mit jedem Tag seinem Ziel, und auch Gott, näher.
Und an diesem Abend, dem Vorabend seines ersten Arbeitstages als Vikar in seiner ersten Gemeinde, dankte Neil Gott einfach dafür, dass er hier angekommen war – und er betete, dass er mit allem fertig werden möge, was der nächste Tag für ihn bereithielt.
DREI
Auch sein erster voller Arbeitstag begann mit einer Andacht, dieses Mal allerdings gemeinsam mit Pfarrerin Margaret und ihrem Mann Frank, die um halb neun am Kircheneingang zur Morgenandacht zu ihm stießen. Ein bisschen unruhig schaute Neil zu, wie die Pastorin das schwere Kirchenportal aufschloss, das bei seinem ersten Besuch von St. Stephen's solche Probleme gemacht hatte. Margaret registrierte sein Unbehagen und lächelte ihm zu, bevor sie den Mittelgang entlang zur Sakristei vorausging und sich dabei die Zeit nahm, ihm zu erklären, wo er finden konnte, was er brauchte, wenn er in der Kirche war. Als sie wieder aus der Sakristei zurückkamen, stellte Neil erfreut fest, dass sich noch ein paar weitere Gemeindeglieder eingefunden hatten. Peter, der Vorsitzende des Kirchenvorstandes – diesmal Gott sei Dank ohne seine furchterregende Ehefrau – winkte ihm vom anderen Ende der Kirche aus zu, wo er neben einer zierlichen Frau mittleren Alters stand und sich mit ihr unterhielt. Auf dem Weg zu der kleinen Kapelle, die in einem Seitenschiff der Kirche untergebracht war, entdeckte er ein weiteres neues Gesicht, einen älteren Mann, dessen blaue Augen freundlich unter buschigen Brauen und einem wuscheligen Haarschopf von gleicher Farbe zwinkerten.
Er kam auf Neil zu und stellte sich vor. »Ich bin Harry Holloway«, sagte er. »Herzlich willkommen in St. Stephen's!«
»Freut mich, Sie kennenzulernen, Harry«, entgegnete Neil. »Sie sind also offenbar auch ein Frühaufsteher!«
»Ja, so bin ich es schon mein ganzes Leben lang gewohnt«, antwortete Harry lächelnd. »Ich war vierzig Jahre lang Milchmann und habe morgens den Leuten ihre Milch ins Haus geliefert. Sobald es draußen hell wird, kann ich nicht mehr schlafen. Auch heute bin ich schon um fünf Uhr aufgestanden, und deshalb fühlt es sich für mich jetzt auch schon fast wie Mittagszeit an.«
»Dann kommen Sie also regelmäßig zur Morgenandacht?«
»Ja, wenn eine stattfindet, bin ich dabei – aber ich komme eigentlich immer gerne her, weil ich mich hier in der Kirche an meine Rose erinnere. Es ist unmöglich, hier drinnen nicht an sie zu denken, denn wir haben vor einundfünfzig Jahren in dieser Kirche geheiratet. Sie hat es leider nicht ganz bis zu unserer goldenen Hochzeit geschafft, was jammerschade ist, weil ich nämlich zu dem Anlass mit ihr eine Reise nach Rom machen wollte. Sie wollte schon immer gerne einmal dorthin und drei Münzen in diesen Brunnen werfen …«
»In den Trevi-Brunnen …?«
»Ja, genauso heißt er. Ihr hat den Song von Frank Sinatra darüber immer so gut gefallen«, sagte er leise glucksend. »Aber Sie sind viel zu jung, um sich an das Lied zu erinnern.«
»Doch, ich kenne die Aufnahme, die Sie meinen. Sie ist auch auf dem Sinatra-Album, das ich meiner Mutter vor ein paar Jahren zu Weihnachten geschenkt habe.«
»Also Rose fand das jedenfalls total romantisch, und sie hat sich immer bei mir beschwert, ich wäre kein bisschen romantisch. Na ja, aber wenn man so lange verheiratet ist, wie wir es waren, dann verfliegt ja meistens doch irgendwann die Romantik.«
»Und Romantik ist ja auch nicht alles«, stimmte Neil zu und hoffte, wie jemand zu klingen, der sich mit diesem Thema auskannte, obwohl seine Erfolgsbilanz in Sachen Beziehungen eher mager war – gelinde gesagt. »Letztlich kommt es doch darauf an, dass man sich liebt …«
Neil hielt mitten im Satz inne, als er sah, dass in Harrys blauen Augen Tränen schimmerten.
»Genau das ist der andere Grund, weshalb ich nachts nicht schlafen kann«, sagte Harry jetzt, und seine Stimme war eigentlich kaum noch mehr als ein Flüstern. »Ich habe sie geliebt. Natürlich habe ich das. Sie war meine Welt, mein Ein und Alles – aber ich habe es ihr nie gesagt – wissen Sie? Ich habe immer gedacht, sie wüsste ja sowieso, was ich für sie empfinde. Warum wäre ich denn wohl sonst jeden Tag zur Arbeit gegangen und hätte die Familie versorgt? Wieso hätte ich denn sonst all die kleinen Reparaturen und Verschönerungen am Haus vornehmen sollen? Ich habe sie geliebt. Das hätte sie wissen sollen.«
»Aber Sie sind nicht sicher, ob sie es gewusst hat?«, fragte Neil leise nach.
»Bei ihrer Beerdigung hat mir ihre Freundin Elsie – die beiden kannten sich schon aus dem Sandkasten – gesagt, Rose hätte sich immer wieder darüber beschwert, dass ich ihr nie sagen würde, dass ich sie liebe.«
Der alte Mann holte ein ordentlich gebügeltes und gefaltetes weißes Taschentuch aus seiner Hosentasche und tupfte sich damit diskret Augen und Nase ab. Neil schaute schweigend zu und wusste nicht so recht, was er sagen sollte.
»Ich komme also an den meisten Tagen an den Ort, wo wir jeden Sonntag zusammen gesessen haben. Und wenn ich dann bete, dann bitte ich Gott, dafür zu sorgen, dass es ihr gut geht, und ihr auszurichten, dass ich sie liebe. Das kann er doch, oder?«
»Auf jeden Fall kann er das«, bestätigte Neil.
»Ich vermisse sie so.«
»Wie lange sind Sie denn jetzt schon allein?«
»Nächsten Monat werden es zwei Jahre – und wissen Sie, ich bin immer noch genauso wund wie damals, vielleicht sogar noch mehr. Rosie ist auf dem Friedhof hier an der Kirche begraben, weiter hinten, oberhalb des Flusses. Irgendwann werde ich auch dort liegen, und ehrlich gesagt sehne ich mich danach, wieder mit ihr zusammen zu sein. Dann kann ich alles mit ihr klären, nicht wahr? Dann kann ich ihr endlich sagen, was ich ihr jeden Tag hätte sagen sollen, den wir zusammen waren.«
»Wenn Sie dann so weit wären, Neil …«, hörte Neil Margaret sagen, und als er aufblickte, sah er, dass sie schon ihren Platz vorne eingenommen hatte.
»Können wir dann endlich anfangen?«
Mit einem schiefen Grinsen schaute Harry in Margarets Richtung und sagte leise: »Ja, das können sie, die Frauen, einem Schuldgefühle machen, auch wenn man gar nichts falsch gemacht hat. Darin war auch Rose richtig gut.«
»Aber Sie haben doch gar nichts falsch gemacht, Harry. Ihre Frau hat bestimmt Ihre liebevolle Fürsorge erkannt und verstanden, dass Sie sie lieben, auch wenn Sie das vielleicht nie ausgesprochen haben.«
»Kommen Sie jetzt, Neil, oder nicht?«, fragte Margaret in einem Tonfall, der ihn an eine Schuldirektorin erinnerte, die er einmal gehabt hatte.
»Ich komme!«, rief Neil zurück.
»Das tut Weihnachten auch!«, entgegnete Margaret mit einem Augenzwinkern. »Geht es vielleicht auch ein bisschen schneller?«
Harry grinste, als Neil rot wurde und nach vorn eilte, um dort seinen Platz einzunehmen.
Neil hatte es schon immer als beruhigend und hilfreich empfunden, den vor ihm liegenden Tag ganz in Gottes Hand zu legen. Die vertrauten Worte des Morgengebetes an seinem ersten Tag als Vikar in der neuen Gemeinde zu sprechen fühlte sich ganz besonders und sehr persönlich an, und am Ende der kurzen Andacht war Neils Stimmung beschwingt, und er war zuversichtlich in Bezug auf alles, was ihm der neue Lebensabschnitt bringen würde. Er hatte gehofft, hinterher noch kurz mit Harry reden zu können, aber anscheinend war der alte Mann sofort nach Ende der Andacht wieder gegangen. Wer allerdings unbedingt noch ein paar Worte mit Neil wechseln wollte, war Margaret.
»So!«, sagte sie in barschem Ton. »Ich habe jetzt einen Termin mit einer Frau aus der Gemeinde, die zurzeit heftige familiäre Probleme hat. Ich glaube es wäre ihr lieber, wenn ich erst einmal allein komme. Ich stelle sie Ihnen dann zu gegebener Zeit vor – und am Sonntagmorgen werden Sie ja sowieso der ganzen Gemeinde vorgestellt. Am Sonntag ist der Gottesdienst bestimmt besonders gut besucht, denn wo Sie jetzt endlich da sind, wollen eigentlich alle kommen, um Sie zu begutachten.«
»Ach«, seufzte Neil, für den wegen seiner angeborenen Schüchternheit die Aussicht, von den Gemeindegliedern beurteilt und für mangelhaft befunden zu werden, höchst erschreckend war, »dann hoffe ich mal, dass sie nicht enttäuscht sind.«
»Na, das liegt ja nun ganz bei Ihnen!«, entgegnete Margaret daraufhin, und Neil war richtig erleichtert, als er sah, wie ihr trotz ihrer knappen, fast barschen Entgegnung ein weiches Lächeln übers Gesicht huschte.
Und sie hatte natürlich recht. Natürlich war sein Leben das, was er daraus machte. War das nicht auf dem ganzen Weg, den er bis jetzt schon hinter sich hatte, der springende Punkt gewesen? Urplötzlich kam ihm das Bild seiner Mutter mit ihrer gewohnt verbitterten und enttäuschten Miene in den Sinn, und er straffte unwillkürlich die Schultern und zog seine Jacke an.
»Und was soll ich tun, solange Sie weg sind?«
Margaret schaute kurz auf ihre Uhr und sagte dann: »Es ist jetzt Viertel nach neun, um halb zehn beginnt im Gemeindesaal der Spielkreis. Fragen Sie einfach nach Barbara, das ist die Mitarbeiterin, die für den Spielkreis zuständig ist. Lassen Sie sich kurz dort sehen und sagen Sie Hallo. Das ist bestimmt auch eine gute Möglichkeit, ein paar der Leute hier aus dem Ort kennenzulernen. Danach können Sie gern wieder ins Pfarrhaus kommen, dann essen wir dort zusammen eine Kleinigkeit zum Mittag. Ich werde Frank bitten, uns ein Sandwich zu basteln, und danach können wir uns anschauen, was diese Woche so anliegt und einen Arbeits- und Aufgabenplan für Sie machen, ja?«
»Ja, gut!«
Als die gefürchtete Kirchentür ge- und auch verschlossen war, ging Neil einfach hinter Margaret her.
»Neil.« Margarets Stimme klang betont geduldig. »Ich gehe in diese Richtung, weil mein Haus in dieser Richtung liegt. Sie gehen zum Gemeindesaal – und der ist da drüben!«
Er spürte, wie sie ihn mit beiden Händen fest an den Schultern packte und umdrehte, sodass er genau in die entgegengesetzte Richtung schaute.
»Den Weg dort entlang zu dem großen Gebäude, bei dem es durchs Dach regnet, mit den Fenstern, die unbedingt einen frischen Anstrich bräuchten. Sie können es gar nicht verfehlen!«
Und mit diesen Worten ging Margaret zielstrebig ihres Weges. Auch Neil machte sich auf den Weg, allerdings sehr viel langsamer und zaghafter, und dabei schaute er sich die Namen auf den Grabsteinen zu beiden Seiten des Weges an. Die meisten davon waren hundert Jahre alt oder sogar noch älter, aber sein Vater hatte ihm beigebracht, sich bei den Namen, Daten und manchmal auch kurzen Inschriften auf den Grabsteinen die entsprechenden Geschichten der Personen vorzustellen. Er blieb kurz stehen, um zu überlegen, was wohl das Schicksal der Familie von William Stephen Allard gewesen war, den man 1868 zur letzten Ruhe gebettet hatte, nur drei Jahre nach seiner jungen Frau Mary, die im Kindbett gestorben war. Mutter, Vater und Kind waren im selben Grab begraben – für immer vereint. Neil fragte sich, woran William wohl gestorben sein mochte, an einer zur damaligen Zeit üblichen Krankheit – oder an gebrochenem Herzen? Als Neil weiterging, war er voller Mitgefühl. Der von Buchen gesäumte Weg war gesprenkelt von dem Sonnenlicht, das seinen Weg zwischen den roten und grünen Blättern der ausladenden Äste hindurchfand. Als Neil hinter die Reihe von Buchen schaute, bemerkte er, dass das Gelände dort abschüssig war, wahrscheinlich zum Fluss hin, den Harry vorhin erwähnt hatte. Irgendwo dort hinten musste also Roses Grab sein – und es dauerte gar nicht lange, da hatte Neil es tatsächlich gefunden. Es war prachtvoll bepflanzt mit Primeln, die in allen Farben leuchteten – ganz sicher Harrys Werk. Es war deutlich zu erkennen, dass hinter der phantasievollen Gestaltung und offensichtlichen Pflege des Grabes mehr steckte als nur Pflichtgefühl oder Gewohnheit. Das hier war seine Rose, und die Pflanzen wurzelten in Liebe.
Neil wurde in seinen Gedanken unterbrochen, als die Kirchturmuhr zur halben Stunde schlug. Er kehrte also rasch wieder um zum Hauptweg und erreichte kurz darauf das schmiedeeiserne Tor, durch das es weiter zum Gemeindesaal ging. Das Tor hatte ganz offensichtlich schon bessere Tage gesehen, denn als Neil den Riegel hochhob und versuchte, es aufzudrücken, rührte es sich nicht. Er stieß daraufhin ein paar Mal, schon etwas heftiger, mit der Handfläche dagegen, und als auch das nichts nützte, gab er dem Tor schließlich einen Tritt, hinter dem der gesamte, geballte Frust steckte, den er verspürte. Doch auch diese Maßnahme blieb völlig wirkungslos. Das Tor blieb zu.
»Ziehen!«, hörte er eine Stimme sagen.
Neil drehte sich abrupt um und sah sich dem kühlen Blick der grünsten Augen ausgesetzt, die er jemals gesehen hatte. Sie gehörten einer zierlichen jungen Frau mit Igelfrisur in Gummistiefeln, die ihm, auf eine Gartenforke gestützt, mit der sie allem Anschein nach gerade in einem der Blumenbeete gearbeitet hatte, mit abgeklärtem Interesse zuschaute.
»Nicht drücken, sondern ziehen. Es geht nach innen auf.«
»Ach so!«, murmelte Neil und lief hochrot an, als er merkte, dass sich das Tor mit Leichtigkeit aufziehen ließ.
»Sie müssen der neue Vikar sein«, fuhr Grünauge fort. »Mir ist schon zu Ohren gekommen, dass Sie ein Problem mit Riegeln und Schlössern haben.«
»Eigentlich gar nicht«, entgegnete Neil mit so viel Würde, wie er aufbringen konnte. »Ich bin auf dem Weg zum Gemeindesaal.«
»Durch das Tor und dann nach rechts. Der Seiteneingang ist offen.« Und dann verzog sie ihr Gesicht plötzlich zu einem spitzbübischem Grinsen und fügte noch hinzu: »Aber vielleicht ja auch nicht, wenn Sie davorstehen. Soll ich lieber mitkommen, damit Sie damit zurechtkommen?«
»Ich komme schon allein zurecht, danke«, entgegnete Neil steif. »Guten Tag.«
Und als er weiterging mit einer, wie er hoffte, Aura der Selbstsicherheit, konnte er sich ganz genau den amüsierten Blick vorstellen, mit dem sie ihm nachschaute.
Am Ende war es dann kein Problem, durch den Seiteneingang ins Gemeindehaus hineinzugelangen, aber es erwies sich als echte Herausforderung, sich zu orientieren, als er erst einmal in dem Gebäude war. Der besagte Seiteneingang führte nämlich in eine große Eingangshalle, die an beiden Seiten mit Garderobenhaken und Bänken ausgestattet war – zumindest war es das, was Neil durch den Pulk schwatzender, gelegentlich schreiender Kinder und ihrer Mütter sehen zu können glaubte, wobei die Mienen Letzterer von völlig vernarrt bis völlig entnervt reichten, während sie ihren aufgeregten Nachwuchs aus Jacken und Stiefeln pellten und ihm Hausschuhe und quietschbunte Overalls anzogen.
»So, bitte ein bisschen leiser jetzt! Vergesst nicht, eure Namensschildchen anzukleben, damit auch jeder weiß, wer ihr seid!«, war über das ganze Chaos hinweg eine Stimme zu hören, die Autorität ausstrahlte. »Du willst als Erstes in den Sandkasten, nicht wahr, Joseph? Dann geh mal los und suche Debbie, die ist heute fürs Sandspielen zuständig. Lass das Phoebe, ja? So ist brav! Schau mal, da drüben wartet Amy schon auf dich. Dahinten im Spielhaus, siehst du? Ach, da bin ich aber froh, dass ich Sie sehe, Mrs. Howard. Sie sind ein bisschen im Rückstand mit Ihrem Beitrag. Könnten Sie ihn vielleicht heute bezahlen? Schau mal bei Christine nach. Sie hat die Bücher. Ja! Kann ich etwas für Sie tun?«
Erst jetzt merkte Neil, dass die Frau mit den kurzen Haaren und der lauten Stimme, die die Ansagen gemacht hatte, mit dieser letzten Frage ihn gemeint hatte. Als sie seinen Pastorenkragen sah, lächelte sie.
»Ach, endlich lernen wir uns kennen! Sie müssen der neue Vikar sein.«
»Neil Fisher«, stellte er sich vor und fragte dann grinsend: »Brauche ich auch einen Namenssticker?«