
Korber schüttelte lachend den Kopf. »Wie klein die Welt ist. Magst du etwas mit mir trinken? Das ist mein Stammlokal, quasi mein zweites Wohnzimmer, und Leopold, der Oberkellner, ist mein Freund. Er hat nur gerade hinten bei den Kartentischen zu tun.«
Marion wehrte gleich ab. »Ich habe nicht viel Zeit«, erklärte sie. »Darum wäre es gut, wenn der Ober schnell käme. Ich bin nur da, um einen Tisch für übermorgen Abend zu reservieren.«
»Das kann ich doch machen«, bot ihr Korber an. »Übermorgen bin ich sicher auch hier. Vielleicht kommen wir da zum Plaudern.«
Marion lächelte verlegen. »Ich glaube nicht, dass das geht. Wir sind eine größere Gruppe und haben etwas Wichtiges zu besprechen.« Sie beugte ihren Kopf nun vertraulich zu ihm herab. »Es geht um das Eichendorff-Projekt am Bisamberg«, sagte sie merklich leiser. »Ich weiß nicht, ob du schon davon gehört hast.«
»Klar«, nickte Korber. »So etwas spricht sich schnell herum.«
»Die machen Ernst«, teilte Marion ihm flüsternd mit. »Wir sind der Meinung, dass man die Zerstörung dieses Naherholungsgebietes nicht widerspruchslos hinnehmen kann. Deshalb tun wir uns zusammen.«
»Und warum trefft ihr euch hier und nicht in Korneuburg?«, wollte Korber wissen.
»Die Politiker dort sind Feuer und Flamme für das Projekt«, weihte Marion ihn ein. »Wir wären zu nahe am Feind. Was wir brauchen, ist ein ruhiger Ort, wo wir uns stressfrei unsere Vorgangsweise überlegen können. Das Heller ist für alle Teilnehmer gut erreichbar, und hier vermutet uns keiner.« Sie warf Korber einen besorgten Blick zu. »Du wirst uns doch nicht verraten!«
»Wo denkst du hin?«, wehrte Korber sofort ab. »Ich habe ja auch meine Zweifel, ob da alles mit rechten Dingen zugeht.«
»Dann bin ich beruhigt«, seufzte sie. Marion wirkte aber gar nicht ruhig, sondern ziemlich nervös. Besorgt warf sie einen Blick auf die Uhr. Sie schien wirklich in Eile zu sein.
»Du musst nicht auf Leopold warten«, versicherte Korber ihr. »Wenn du mir vertraust, übernehme ich die Reservierung.«
Marion überlegte. »Das würdest du wirklich tun?«, fragte sie.
»Selbstverständlich! Das ist mein Stammcafé, Leopold ist, wie gesagt, mein Freund, und die Chefin kenne ich auch. Wir machen es auf meinen Namen, da kann nichts schiefgehen«, setzte Korber ihr auseinander. »Sag mir nur, für wann und für wie viele Personen.«
»Wir sind zu zehnt und treffen uns übermorgen um 19.30 Uhr«, gab Marion an.
»Also Donnerstag um 19.30 Uhr, zehn Personen«, notierte Korber sich. »Da wird man euch nach hinten zu den Kartentischen setzen. Um diese Zeit habt ihr dort genügend Platz.«
»Danke«, atmete Marion kräftig durch. »Bitte zu niemandem ein Wort über den Zweck unseres Treffens, das ist sehr wichtig! So, jetzt muss ich aber!«
Korber versprach, dass er alles zu Marions vollster Zufriedenheit erledigen würde. Sie verabschiedeten sich mit einer weiteren Umarmung, ehe sie nach draußen flüchtete. Korber schaute ihr gedankenverloren nach. Selbstverständlich würde er am Donnerstagabend auch da sein. Er hoffte, dass sich trotz der Versammlung eine Gelegenheit ergeben würde, mit ihr ein wenig über vergangene Zeiten zu plaudern. Er erinnerte sich daran, mit ihr in Heidelberg viel Spaß gehabt zu haben. Jetzt wirkte sie ernster und ein wenig gezeichnet von den Spuren vergangener Jahre.
Korber hatte Marion damals sehr gemocht, war aber nie richtig in sie verliebt gewesen. Nun schloss er die Anbahnung einer intensiveren Beziehung nicht aus. Dabei fiel ihm ein, dass sie wahrscheinlich schon vergeben war. Ob sie wohl noch, wie ehedem, den Familiennamen Kirchner trug? Egal. Er speicherte sie vorerst so in seinem Gedächtnis ab. In seiner augenblicklichen Situation suchte er weibliche Nähe, das war das Wichtigste. Er hoffte deshalb, dass sich am Donnerstag etwas ergeben würde.
Als Leopold wieder nach vorne kam, zahlte er und tätigte ohne jeden weiteren Kommentar die Reservierung bei seinem erstaunten Freund. Dann verließ auch er das Café Heller.
Kapitel 2
Dienstag, 29. Juni, abends
Leopolds Lebensgefährtin Erika Haller konnte zufrieden sein. Ihr neues Buch- und Papiergeschäft, das sie vor kurzer Zeit von Herrn Lederer übernommen hatte, lief besser, als sie es erwartet hatte. Thomas Korber hatte sie zu dem Wechsel überredet, und seine Einschätzung der Lage hatte sich als richtig erwiesen. Sie profitierte von der Nähe des Gymnasiums, des Bahnhofs und dem großen Einzugsgebiet, und wenn sie die Ärmel aufkrempelte, konnte sie hier noch viel erreichen.
Natürlich gab es gerade am Anfang viel Stress und Überstunden, aber die Gewissheit, dass sie auf dem richtigen Weg war, beflügelte Erika. Ständig kamen ihr neue Ideen, wie sie das Geschäftslokal attraktiv gestalten und einen zufriedenstellenden Umsatz erzielen konnte. Nach getaner Arbeit machte sie dann einen Sprung ins Café Heller, das in unmittelbarer Nähe lag. Anfangs freute sich Leopold noch über ihre Besuche, doch als er merkte, dass sie zur ständigen Einrichtung werden sollten, schwand seine Begeisterung rasch. Das Kaffeehaus war seine Arbeitsstätte, wo er seine Ruhe haben wollte, für das Familienleben gab es die gemeinsame Wohnung im Bezirksteil Jedlesee. Er hatte aber keine Chance. Erika und Frau Heller waren dicke Freundinnen geworden, duzten einander, hatten sich für gewöhnlich eine Menge zu erzählen und ließen sich durch seinen Grant nicht dabei stören.
Auch jetzt kam Erika wieder aufgekratzt zur Tür herein und drückte Leopold mit einem herzlichen »Guten Abend, Schnucki!« einen Kuss auf die Wange.
»Bist du heute wieder gut drauf«, bemerkte er irritiert.
»Sogar außergewöhnlich gut«, teilte sie ihm mit. »Die Geschäfte gehen hervorragend, Schnucki! Die Leute werden auf mich aufmerksam. Es gibt richtig viel zu tun. Ich denke, ich werde das mit einem Glas Prosecco feiern. Trinkst du auch eines, Sidonie?«
»Aber selbstverständlich«, antwortete Frau Heller gut gelaunt. »Es freut mich, dass dein neuer Laden so wunderbar anläuft.« Leopold füllte zwei Gläser mit der prickelnden Flüssigkeit. Indessen wandte sich die Chefin vertraulich an Erika Haller: »Wer weiß, vielleicht wird alles bald noch besser, wenn es mit dem Eichendorff-Projekt ernst wird.«
»Ich habe mir dazu schon einiges überlegt«, erwähnte Erika. »Mit der Hilfe von Thomas werde ich mein Sortiment in Richtung Eichendorff und die literarische Romantik erweitern. Aber das ist nur der Anfang. Mit einiger Fantasie lässt sich mit dem Begriff Romantik noch einiges machen. Ich denke zum Beispiel an eine Romantik-Ecke mit Liebesromanen für jugendliche Leserinnen und Leser, an romantische Postkarten, Aufkleber, Briefpapier und so weiter!«
»Oh la la«, schnalzte Frau Heller mit der Zunge. »Das klingt verdammt gut! Dann lass uns auf die vielversprechenden Entwicklungen in unserem Bezirk anstoßen. Prost, Erika!«
»Prost, Sidonie!« Sie ließen die Gläser klingen. »Magst du auch einen Schluck, Schnucki?«, fragte Erika, nachdem sie getrunken hatte.
»Bedaure, bin im Dienst«, lehnte Leopold dankend ab. »Außerdem weiß ich nicht, was es da zu feiern gibt.«
»Freust du dich denn gar nicht mit mir?«, wollte Erika wissen, und es klang enttäuscht.
»Ich kann mich nicht freuen, wenn alles nur mehr darauf aufgebaut ist, möglichst viele Fremde in unseren Bezirk zu karren, die unsere letzten Grünoasen verwüsten«, setzte Leopold ihr auseinander. »Leider ist das so, auch wenn du davon profitierst.«
»Wir werden alle davon profitieren«, schwärmte Frau Heller. »Das ist ja der Sinn der Sache! Darum werden wir als Floridsdorfer Geschäftsleute uns gewissenhaft auf die Zukunft vorbereiten. Du bist doch übermorgen auch dabei, Erika?«
»Wobei?«, erkundigte sich Erika gut gelaunt. Der Alkohol hatte sie rasch in Stimmung gebracht.
»Bei unserer Versammlung«, erklärte Frau Heller. »Wir besprechen, wie wir als Unternehmer das Maximum aus der sich anbahnenden Entwicklung herausholen können. Ich habe dazu eingeladen. Das Ganze findet am Donnerstagabend in aller Ruhe statt. Wir sind sozusagen unter uns.«
Leopold spitzte seine Ohren. »Was, hier im Kaffeehaus?«, rutschte es ihm heraus.
»Natürlich«, beeilte Frau Heller sich zu sagen. »Wo denn, glauben Sie? Auf der Straße? Die überlassen wir den Demonstranten. Es soll ja auch Menschen geben, die gegen das Projekt sind. Die sollen dort von mir aus einen Wirbel machen. Wir hingegen werden uns hier gemütlich zusammensetzen und konstruktiv Ideen sammeln, wie wir diese einmalige Chance nutzen können. Ich denke, dass dieses Treffen auf reges Interesse stoßen wird.«
»Hoffentlich geht sich das aus«, gab Leopold zu bedenken. »Es gibt für übermorgen bereits eine Reservierung für zehn Personen bei den Kartentischen. Die möchten auch ungestört sein.«
»In meinem eigenen Haus werde ich hoffentlich noch tun und lassen können, was ich will, ohne auf andere Rücksicht zu nehmen«, reagierte Frau Heller unwirsch. »Wenn es jemandem nicht passt, soll er woanders hingehen. Wer hat denn reserviert?«
»Unser Thomas Korber«, informierte Leopold seine Chefin.
»Korber? Komisch! Der kommt doch sonst immer allein«, grummelte Frau Heller.
»Den Thomas dürfen wir nicht vergrämen«, meldete sich Erika Haller zu Wort. »Er steht mir jetzt ständig mit seinen guten Ratschlägen zur Seite.«
»Das wird überhaupt kein Problem«, lenkte Frau Heller beschwichtigend ein. »Es ist genug Platz da, um uns ein wenig auseinander zu setzen. Herr Korber kommt mit seiner Gruppe in die Ecke hinter den Billardtischen, wir nehmen schräg gegenüber Platz. So hat jeder ein bisschen Luft, und auf den Tischen dazwischen kann man sogar noch Karten spielen. Den vorderen Teil überlassen wir den anderen Gästen. Mein Heinrich wird Sie mit vollen Kräften unterstützen, und alles ist in bester Ordnung!«
Leopold glaubte nicht so recht daran. Er sah schwere Zeiten auf sich zukommen. Zwei Gesellschaften, und als Hilfe nur der Chef höchstpersönlich, der die Anstrengung mied wie der Teufel das Weihwasser. Zudem saßen auf der einen Seite Erika und Frau Heller, auf der anderen sein Freund Thomas, von dem er noch dazu gar nicht wusste, mit welcher Gruppe er plötzlich angetanzt kommen würde. Bei seiner derzeitigen Stimmungslage war alles möglich. Also beschloss Leopold, nicht viel nachzudenken und diesen Abend einfach auf sich zukommen zu lassen.
*
Nach ihrem Glas Prosecco hatte Erika noch ein zweites getrunken und war dann in blendender Stimmung nach Hause gegangen. Draußen regnete es mittlerweile intensiv und anhaltend. Das Heller leerte sich rasch, was eine zeitige Sperrstunde vermuten ließ. Es war nicht anzunehmen, dass jetzt noch jemand bei der Tür hereinschneien würde. Leopold begann mit dem Abkassieren. Aber wie so oft, wenn man nicht damit rechnete, kam noch ein später Gast daher.
»Othmar! Welche Überraschung«, rief Leopold aus.
Ein großer, durchtrainierter Mann mit Dreitagesbart, Regenjacke und Filzhut stellte sich an die Theke. »Es ist zum Heulen! Nichts lässt sich anfangen bei dem Sauwetter«, klagte er. »Aber irgendwo muss der Mensch ja hin! Hast du für mich noch ein Bier auf die Schnelle?«
Leopold nickte. Mit einem Besucher wie Othmar Demmer blieb er gern noch ein wenig stehen, um über dieses oder jenes zu plaudern. Wobei man mit Othmar nur über ein Thema reden konnte: die erotisierende Wirkung der Natur auf Mann und Frau. Wollte man ihm glauben, so funktionierten seine Verführungskünste im Freien am besten. Böse Zungen behaupteten, dass er in einem geschlossenen Raum nichts zusammenbrachte. Er brauchte den Himmel über sich und einen angenehmen lauen Wind, der seine Lenden streichelte. Dann konnte ihn keiner bremsen. Bei einer solch regnerischen Witterung aber waren seine Libido und damit auch seine Laune beim Teufel.
Demmer steckte seine Lippen beim ersten Schluck andächtig in den Bierschaum. »Der Sommer beginnt schlecht«, sinnierte er. »Kühl und feucht. Wie soll ich da in Form kommen?«
»Vielleicht beschränkst du dich vorläufig auf das herkömmliche Umfeld: ein Bett in einem Zimmer«, schlug Leopold vor.
»Unmöglich«, wehrte Demmer gleich ab und umarmte dabei sein Bierglas wie einen zarten Frauenkörper. »Wo bleibt da die Sinnlichkeit? Freie Liebe, freie Natur. Glaube mir, ich könnte mir überall eine Frau aufreißen, sogar in eurem Kaffeehaus, und sie dann in meine Wohnung abschleppen. Aber ein wirklicher Hochgenuss ist es nur, in weinseliger Stimmung bei einem Heurigen in der Stammersdorfer Kellergasse eine Frau kennenzulernen, mit ihr ein Glas Wein zu trinken und sie dann bei einem abendlichen Spaziergang am Bisamberg zu verführen. Gerade hat man noch den Sonnenuntergang bewundert, jetzt geht man fest aneinandergedrückt durch die einbrechende Dunkelheit auf den Wald zu. Du spürst die Unsicherheit deiner charmanten Begleiterin, wohin sie ihre Schritte setzen soll, und gleichzeitig ihr Bedürfnis nach Zweisamkeit. Du tust so, als ob alles Schicksal oder Zufall wäre, während du genau auf den Platz zusteuerst, den du für den prickelnden Abschluss des Abends auserkoren hast. Und rein zufällig hast du in einer umweltfreundlichen Tasche über der Schulter eine Decke mit, die du sonst immer unterlegst, wenn du des Nachts von einem Bankerl zur Donau hinunterschaust – sagst du ihr zumindest …«
Leopold hatte amüsiert zugehört. »Und dass in der Nacht alle Katzen grau sind, stört dich dabei gar nicht?«, wollte er wissen.
»Was bist du nur für ein fantasieloser Mensch«, rügte Othmar Demmer ihn. »Wichtig sind nicht die Details der weiblichen Rundungen, obwohl die natürlich auch sehr schön sind. Aber an so etwas sieht man sich heutzutage im Internet satt. Wichtig ist der ehrfürchtige Schauer, der einen inmitten der Natur ergreift und die urtümlichen Triebe in dir auslöst. Du fühlst dich frei und bereit zu genießen, was früher nur der Fortpflanzung diente.«
»Redest du aber heute geschwollenes Zeug daher, Othmar«, befand Leopold.
»Es hat mit Inspiration zu tun, und der Bisamberg inspiriert mich eben«, erklärte Demmer. »Der Bisamberg und natürlich auch sein bekanntester Bewohner, Florian Berndl: Pionier der Naturheilkunde und Naturbursch, Begründer des berühmten Gänsehäufels und schon um die Wende zum 20. Jahrhundert entschiedener Befürworter des gemeinsamen Badens von Mann und Frau. Später spärlich bekleideter Sonderling, der einsam am Bisamberg hauste, und dessen Anblick wohl manches keusche Mädchenauge erschreckte. Sein Geist schwebt immer noch über diesen Höhen.«
»Er ist aber schon eine ganze Weile tot«, erinnerte Leopold seinen späten Gast.
»1934 gestorben. Tot, aber nicht vergessen«, beeilte Demmer sich zu erwähnen. »Immerhin gibt es ein schönes nach ihm benanntes Bad am Fuß des Berges.«
»Ein anderer, der noch länger tot ist, macht ihm derzeit gehörig Konkurrenz«, machte Leopold ihn aufmerksam. »Joseph von Eichendorff. Der ist am Bisamberg nur ein paarmal auf und ab gewandert. Nichtsdestotrotz hat man ihm vor etlichen Jahren ein Denkmal gesetzt und möchte es jetzt zum Zentrum eines Tourismusprojektes machen.«
»Eichendorff war ein großer Dichter, der wohl ähnlich wie ich empfand«, geriet Demmer ins Schwelgen. »Kennst du sein Gedicht Mondnacht?
Es war, als hätt’ der Himmel
die Erde still geküsst,
dass sie im Blütenschimmer
von ihm nun träumen müsst.
Die Luft ging durch die Felder,
die Ähren wogten sacht,
es rauschten leis’ die Wälder,
so sternklar war die Nacht.
Und meine Seele spannte
weit ihre Flügel aus,
flog durch die stillen Lande,
als flöge sie nach Haus.
Kaum jemals wurden die Gefühle eines Menschen beim nächtlichen Stelldichein unter freiem Himmel treffender beschrieben. Wer den Autor dieser romantischen Zeilen allerdings für die Umgestaltung des Bisambergs zu einem Vergnügungspark missbrauchen will, ist eine traurige Gestalt, die ihre vier Wände noch nie für ein Liebesabenteuer verlassen hat.«
»Ich fürchte, du wirst umdenken müssen. Deine Platzerl sind dadurch doch in höchster Gefahr, oder?«, reizte Leopold ihn.
»Man weiß noch nichts Genaues«, relativierte Demmer. »Aber wenn es dort auf einmal Kiosks, beschriebene Wege, allerlei Attraktionen und jede Menge Leute gibt, ist es mit der Romantik vorbei. Dann wird ein natürlicher Paarungsraum vernichtet. Das muss auf jeden Fall verhindert werden. Aber wie?« Seine Hände verkrampften sich bei dieser Frage um das Bierglas.
»Ich sag dir jetzt was, aber das hast du nicht von mir«, wurde Leopold vertraulich. »Übermorgen am Abend treffen sich bei uns einige Geschäftsleute und besprechen, wie sie den neuen Hotspot für sich ausnutzen können. Da erfährt man vielleicht, wie die Sache steht.«
»Interessant«, nickte Demmer. »Andererseits muss ich natürlich meinen Gefühlen freien Lauf lassen, solange es noch geht. Wenn das ein lauschiger Frühsommerabend wird …« Er schaute fragend hinaus in die Dunkelheit.
»Immerhin geht es um deine Liebesnester«, gab Leopold zu bedenken.
Demmer kniff vertraulich ein Auge zu. »Kannst du nicht ein bisserl für mich aufpassen, was da geredet wird?«, drang er in Leopold.
»Ich muss arbeiten«, wehrte Leopold ab. »Wenn es dir wichtig ist, solltest du selber da sein. Ich könnte dir einen Platz freihalten, wo du mithören kannst. Deine Gefühle hast du nach der Unterredung auch noch.«
»Na gut, ich überleg’s mir«, zwinkerte Demmer ihm zu. Nachdem er gegangen war, erinnerte sich Leopold daran, dass seine Erika auch an der Versammlung teilnahm. Sie brauchte das Projekt für ihr neues Geschäft. Ihre Beziehung stand also wieder einmal vor einer großen Herausforderung.
Kapitel 3
Mittwoch, 24. Juni
Thomas Korber erwachte mit einem heftigen Brummen im Schädel. Mit halb geöffneten Augen riskierte er einen Blick auf die Uhr. Es war bereits nach 7 Uhr. Er musste den Wecker überhört haben. Jetzt hieß es flott auf die Beine kommen, damit er es bis 8 Uhr in die Schule schaffte.
Gott sei Dank hatte er in der ersten Stunde nur eine zweite Klasse, wo ihn der Unterricht nicht so anstrengen würde. Aber pünktlich sein musste er, um keine Abmahnung durch Direktor Marksteiner zu riskieren. Zu Unterrichtsbeginn wieselte dessen Sekretärin, Frau Pohanka, immer am Gang vor der Eingangstür auf und ab, um zu spät kommende Lehrer und Schüler zu ertappen.
Korber tastete sich ins Bad, hoffend, dass der kalte Strahl der Dusche seine Geister wiederbeleben würde. So ganz klappte es nicht, aber er fühlte sich allmählich frischer. Was war gestern bloß noch gewesen? Er war am Nachmittag aus dem Heller nach Hause gegangen, hatte dort seine Tasche mit den Schulsachen abgestellt und war wieder los, erst zum Heurigenlokal Fuhrmann gleich ums Eck, und dann …
Er war in die Innenstadt gefahren, in sein Lieblingslokal Botafogo, wo eine Mischung aus räumlicher Enge, Livemusik und Alkohol bei ihm meist zu jener unseligen Stimmung führte, in welcher er sich zu unkontrollierten Handlungen hinreißen ließ, an die er sich nachher kaum erinnern konnte. Häufig war dabei eine Vertreterin des weiblichen Geschlechts im Spiel, deren Gestalt und Gesicht im Dämmerlicht appetitlicher wirkten, als sie es tatsächlich waren.
Vielleicht fand sich in seiner Jacke etwas, das als Hinweis dienen konnte. Korber kramte in den Taschen, wobei ihm immer noch scharfer Schweißgeruch entgegenschlug, den das Kleidungsstück als Gedächtnisstütze aufbewahrt hatte. Tatsächlich fand er einen zerknitterten Zettel, auf dem mit Lippenstift »Auf bald, Schmusekönig« geschrieben stand. Mehr wollte er gar nicht wissen. Wahrscheinlich hatte ihn sein ramponierter Zustand davor gerettet, neben dem Faltengesicht einer überholten Lady aufzuwachen, die sich so in ihn verliebt hatte, dass er sie nur unter großen Anstrengungen wieder loswerden würde. Es hatte den Anschein, als sei er mit einer überhöhten Taxirechnung davongekommen.
Ein weiterer Blick auf die Uhr zeigte Korber, dass er keine Gedanken mehr an die feuchtfröhliche Nacht verschwenden durfte. In Windeseile trank er eine Tasse schwarzen Kaffee und würgte dazu ein halbes Butterbrot hinunter. Dann eilte er aus der Wohnung. Zum Glück erwischte er sofort eine Straßenbahn und war sogar um 7.55 Uhr an seinem Arbeitsplatz. Deshalb wunderte es ihn, dass Frau Pohanka vor dem Lehrerzimmer ungeduldig auf ihn wartete und ihn mit einem nervösen »Da sind Sie endlich« empfing.
»Rechtzeitig zum Unterricht, wie ich hoffe«, verteidigte sich Korber. Dabei drehte sich ihm vom Hinaufgehen in den ersten Stock leicht der Kopf.
»Haben Sie vergessen, dass Sie für heute um 7.45 Uhr zu Direktor Marksteiner bestellt waren?«, klang ihm Frau Pohankas Stimme unbarmherzig im Ohr.
Langsam dämmerte es Korber. Gäste waren da, die er betreuen sollte. Gäste aus Deutschland. Er räusperte sich. »Nein, aber der Verkehr …«, war aber das Einzige, was ihm als Entschuldigung einfiel.
»Sie sehen ein wenig schlampig aus«, unterbrach ihn Frau Pohanka. »Frisieren Sie sich und spülen Sie bitte hiermit Ihren Mund aus«, raunte sie ihm zu, sodass es niemand hörte, und steckte ihm ein kleines Fläschchen zu. »Frau Aberle und Herr Bader von unserer Partnerschule in Heidelberg warten bereits ungeduldig auf Sie. Ich gehe schon einmal vor und kündige Sie an.«
»Danke«, murmelte Korber verschämt. Im Spiegel der Toilette sah er dann, dass sich die Exzesse der vorigen Nacht tief in sein Gesicht gekerbt hatten. Er erfrischte sich, so gut es ging, und betrat das Sekretariat, wo die Tür zur Direktion bereits offen stand.
Direktor Marksteiner wirkte angespannt, bemühte sich jedoch um Souveränität. »Ah, Korber. Sie hatten Probleme mit dem Verkehr, wie ich höre. Nun sind Sie ja, Gott sei Dank, da. Darf ich Ihnen unsere Kollegen vom Eichendorff-Gymnasium in Heidelberg vorstellen, die uns diese Woche besuchen? Das ist der dortige Administrator, Professor Erwin Bader, mit dem ich Möglichkeiten der Kooperation in der Schulorganisation erwägen werde, und hier ist Ihre Kollegin in Deutsch, Frau Professor Monika Aberle, mit der Sie Ideen für ein gemeinsames kulturelles Projekt im Herbst austauschen werden.«
»Guada Morga«, tönte es Korber aus beiden Kehlen im schwäbischen Akzent entgegen.
»Einen schönen guten Morgen«, grüßte er zurück und musterte die beiden Gäste, während er ihnen die Hand schüttelte. Bader wirkte wie der typische in Ehren ergraute Lehrer, dem es für einen Schulleiter am nötigen Ehrgeiz gemangelt haben mochte, dem aber die nüchterne Arbeit mit Zahlen und Systemen Freude bereitete. Vorderhand reserviert, vielleicht zugänglicher in den nächsten Tagen. Hohe Stirn, dünne Lippen, das eine oder andere Kilogramm um die Hüften zu viel. Keine Besonderheiten.
Monika Aberle sah fröhlicher aus, war aber ebenfalls nicht mehr die Jüngste. Blond gelocktes Haar, bereits die eine oder andere Falte im freundlichen Gesicht, sportlich, Kumpeltyp. Sympathisch, aber nicht die Frau, die Korber über die derzeitige Misere in seinem Liebesleben hinweghelfen konnte. Zumindest war das sein erster Eindruck.
»Nehmen Sie Frau Aberle bitte gleich in Ihren Unterricht mit, damit sie sich ein Bild machen kann, wie es bei uns so zugeht«, hörte Korber Marksteiner in seine Richtung sagen.
»Natürlich«, bekräftigte Korber und wagte ein Zwinkern in Richtung Monika Aberle. Zu seiner Erleichterung zwinkerte sie zurück.
Auf dem Weg in die Klasse machte er ihr ein Geständnis. »Ich hatte heute große Mühe, aus dem Bett zu kommen, weil wir gestern eine Feier hatten«, beichtete er. »Ich kann Sie nur bitten, mein spätes Kommen zu entschuldigen.«
»Deesch nedd schlemm«, beruhigte ihn Monika Aberle. »’s isch bloß bleed, dass ma am näggschdn Daag so frieh ähfanga muass. Ach, verzeihen Sie! Ich plappere Sie da auf Schwäbisch an! Ich meinte, das sei gar nicht schlimm. Es ist halt dumm, dass man am nächsten Tag gleich wieder zeitig mit der Arbeit beginnen muss. Kenne ich von mir selbst.«
»Scho rächd«, lächelte Korber sie an. »Ich habe ein Jahr in Heidelberg studiert. Ein bisschen was bekomme ich von der Sprache schon noch mit.«
»Vielleicht reden wir zur Sicherheit doch lieber in unserem Lehrerhochdeutsch miteinander, damit es keine Verständigungsschwierigkeiten gibt«, schlug Monika vor. »Und jetzt freue ich mich schon auf Ihren Unterricht!«
Nett ist sie auf jeden Fall, die Besucherin aus Heidelberg, dachte Korber. Ausgesprochen nett!